Kunst ist ein menschliches Kulturprodukt, das Ergebnis eines kreativen Prozesses und beneidenswert frei!
Kann man ein weißes Bild mit weißen Streifen als Kunst durchgehen lassen?
Der Streit über diese Frage stellt die langjährige Freundschaft dreier Männer in dem 1994 in Paris uraufgeführten Theaterstück „Kunst“ von Yasmina Reza auf eine harte Probe.
Der stolze Eigentümer muß sein weißes weiß gestreiftes Bild als Kunstwerk und den dafür gezahlten Preis in Höhe von 200.000 französischen Francs gegen die spitzen Verbalattacken seines Freundes verteidigen. Der dritte im Bunde versucht, zwischen den Streithähnen zu vermitteln.
Diesen amüsanten mit viel Wortwitz geführten Disput verfolgte ich vor vielen Jahren im Heidelberger Zimmertheater. Das Zimmer faßt ungefähr 100 Besucher und die erste Reihe gehört schon fast mit zur Bühnenkulisse.
Als der Gegner des Bildes im Eifer des Wortgefechtes dieses als „weiße Scheiße“ betitelte, passierte es!
Eine Dame im Publikum steckte mit ihrem glucksenden und nicht enden wollenden Lachanfall zuerst nach und nach alle Theaterbesucher an, schließlich aber auch die drei Schauspieler, die so für einige Minuten außer Gefecht gesetzt wurden.
Viele Menschen können es kaum erwarten, bis die ersten Schneeflocken spätestens zu Weihnachten alles in eine Winterlandschaft verwandeln. Besonders nervös beobachten „gepriesen sind die Skifahrer“ ab Mitte Dezember die sich in den Bergen ansammelnden Schneemassen. Seit diesem Theaterbesuch verfluche ich die weiße Schneepracht jedenfalls im Alltag als „weiße Scheiße“, durch die ich mich mit dem weißen Stock wühlen muß, ohne von den mir vertrauten und gewohnten Geräuschen geleitet zu werden.
Um gleich mehrere Bilder geht es auch in dem vor kurzem angelaufenen Film „Ich und Kaminski“.
Vor dem Kinostart eröffnete im Bikini Berlin die Ausstellung „Retrospektive Kaminski“, in der erstmals für einige Tage Bilder aus seiner „Blinden Serie“ zu sehen waren.
Manuel Kaminski wurde Mitte der 60er Jahre als The Blind Painter berühmt, hatte in den großen Museen der Welt einige Ausstellungen und geriet nach seinem plötzlichen Rückzug in Vergessenheit, heißt es.
Er wird in einem Atemzug mit Henri Matisse, Andy Warhol, Claes Oldenburg und Pablo Picasso genannt und sei einer der letzten Überlebenden der klassischen Moderne.
Anfang des 20. Jahrhunderts kam eine Vielfalt neuer Kunststile auf, die alles bisher dagewesene revolutionierten, so in Frankreich der Kubismus, in Rußland der Konstruktivismus und in Deutschland das Bauhaus.
Die Künstler der klassischen Moderne entwickelten sich weg von der gegenständlichen Malerei hin zur Abstraktion, um die Wahrheit hinter den Dingen zu ergründen. Sehr oft lassen sie allerdings die Betrachter ihrer Werke über ihre so gewonnenen Erkenntnisse im Unklaren.
Die Sache mit Kaminski hat allerdings einen Kunstfehler.
Der blinde Maler ist eine Kunstfigur des Schriftstellers Daniel Kehlmann in seinem 2003 erschienenen und jetzt verfilmten Roman „Ich und Kaminski“.
Die Künstler Matisse, Warhol und Picasso sind in aller Munde und sogar mir als Kunstunbeflissener ein Begriff. Daß ich von Kaminski noch nie etwas gehört hatte, war für mich aber kein Grund, an seiner Existenz zu zweifeln.
Erst das erfolglose Googeln machte mich stutzig.
Wer, wenn nicht Kaminski, steckt hinter den Bildern, die in der Ausstellung „Retrospektive Kaminski“ zu sehen sind?
Das Art-Magazin spekulierte in einem Artikel, die „Blinde Serie“ im Gruselstil könnte von der Hand des US-amerikanischen Musikers und Künstlers Marilyn Manson stammen.
Im Film jedenfalls sucht der Kunstjournalist Sebastian Zöllner (Daniel Brühl) den blinden Maler Kaminski (Jesper Christensen) in dessen Chalet in den Schweizer Alpen auf, um über den inzwischen alten Mann eine Biographie zu schreiben.
Schon bei der Vorankündigung im August war mir sofort klar, daß ich mir das außergewöhnliche und hochinteressante Duo unbedingt in voller Filmlänge anschauen muß.
Blinde tun, abgesehen vom eigenhändigen Führen von Fortbewegungsmitteln in der Luft, zu Wasser oder auf der Straße, fast alles, was auch die sehende Welt tut, und das ist gut so!
Dazu gehören neben allen Sportarten beispielsweise das Fotografieren und natürlich auch das Malen.
Ich hatte noch nie Freude daran, etwas außer Buchstaben aufs Papier zu bringen, und meine malerischen Fähigkeiten reichen wahrscheinlich nur zu einem weißen Bild mit weißen Streifen.
Schon in der Schule war mir der Kunstunterricht ziemlich verhaßt. Noch wie heute kann ich mich an die aussichtslose Anstrengung erinnern, wie ich mit meiner Lupenbrille fünf cm über dem Millimeterpapier maßstabgetreu den Grundriß des Speyerer Doms übertragen sollte.
Auch im Park zu sitzen und einen herbstlich belaubten Baum zu zeichnen, fand ich einfach nur lästig. Bei meinen kindlichen Malversuchen mit Wasserfarben hatte ich in kurzer Zeit den Tuschkasten geflutet und aus allen Farbtöpfchen eine undefinierbare Mischung angerührt. Was schließlich mit dem Pinsel den Weg auf das Papier gefunden hatte, wäre mit viel gutem Willen vielleicht als extrem klassische Moderne durchgegangen.
Spaß gemacht hat mir das Malen mit Fingerfarben, das Werkeln mit Kartoffeldruck und Linoleumschnitt und das Formen von Knetmasse und Ton, eben Material, das ich direkt mit den Fingern bearbeiten konnte, ohne eine künstliche Verlängerung durch einen Stift oder Pinsel kontrollieren zu müssen.
Genauso gespannt wie der fiktive Kunstjournalist bin auch ich zu erfahren, wie und ob der fiktive und vielleicht auch fiktiv blinde Maler Kaminski die in dem Film real auftauchenden und in der Ausstellung real ausgestellten Bilder gemalt hat.
Jemand hat zu meiner großen Freude meinen ganz leise geäußerten Wunschgedanken erhört und die Bildbeschreibung für den Film über die App von Greta hörbar gemacht. Hoffentlich waren die Dialogpausen lang genug, um die angeblich im Gruselstil gemalten Bilder zu beschreiben.
Sobald ich wieder in die Nähe eines deutschsprachigen Kinos komme, haben ich und „Ich und Kaminski“ einen Termin. Danach besteige ich mit Greta, Popcorn und einer Cola den Mount Everest.
Aber jetzt gehe ich erst einmal an den Strand!