Blog Blindgaengerin

Spieglein, Spieglein an der Wand…

…wer ist die Schönste im ganzen Land?

Wie im Märchen ist es auch hier nicht die da, die da gerade vorm Spiegel steht!
Die da kann sich auch freitags nicht in einer reflektierenden Oberfläche sehen und weil ihr persönlicher Modeberater gerade nicht kann, hat sie eine viel wichtigere Frage, nämlich:

Kann ich so auch ohne dicken Pulli an – hoffentlich bald wieder – unter die Leute?

Aber das Spieglein bleibt stumm.
Also ein Fall für die Kategorie „Verflixt noch mal“!

Dabei trübt nach meiner liebevollen Reinigung nicht eine Schliere und kein Wassertröpfchen dem zweiteiligen Wandspiegel die Sicht. Vielleicht schmollt er mit mir, weil ich ihm mit dem Bügelbrett den Blick versperre, auf dem sich Wäscheberge türmen oder sich die Katze fläzt.

„Kombiniere …“ mal wieder was Neues, dachte ich mir, und jetzt muß ich unbedingt wissen, haut das farblich und vom Stil her so hin?
Hatte die rote Bluse nicht doch ein kleines Muster, das sich nicht mit der Jacke vertragen könnte, und paßt die graue Jeans wirklich?

Weil meine Experimente mit Kombinationen schon viel zu oft in die Hose gingen, gehe ich auch dieses Mal kein Risiko ein.
Ich brauche einen Kontrollblick, und zwar von einer Vertrauensperson!

Damit fällt der Blick via „Be My Eye“ leider aus.
Hinter der so genannten App steckt die sehr schöne Idee, daß Blinde sich unkompliziert das Auge eines Sehenden kurzfristig ausleihen können. Wäre diese App auf meinem Smartphone und ich als blind angemeldet, könnte ich mich jetzt per Videochat mit irgendeinem als sehend Registrierten verbinden. Ich müßte mit der Handykamera an mir entlangfahren, damit sich die Person ein Bild von meinem Outfit machen könnte. Aber ich müßte mich auf den Geschmack eines Wildfremden verlassen und ob das mit der genauen Übermittlung der farblichen Feinheiten technisch so klappt, wage ich auch zu bezweifeln.

Also Plan B, raus aus den Klamotten und rein in eine bereits bewährte Kombination!
Aber war da nicht was mit Spritzern vom Balsamico-Dressing auf dem weißen Oberteil? Und sind diese beim Waschen wirklich rausgegangen? Und wo ist verflixt und zugenäht die dunkelblaue Jeans?

Bevor mir der Kragen platzt und mir die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt, durchforste ich meinen Schrank nach der nigelnagelneuen olivfarbenen Bluse. Die ist bestimmt unbefleckt. Dazu paßt, das weiß ich, eine helle Jeans. Jetzt noch meinen Bernsteinschmuck angelegt, in die schwarzen Sneakers geschlüpft, die schwarze Lederjacke drüber und fertig!

Dieses Ergebnis hätte ich auch gleich haben können, ohne meinen Kleiderschrank zu verwüsten. Am perfekten System, meine Sachen so zu sortieren, daß ich das gewünschte Teil auf Anhieb finde, arbeite ich noch. Bewährt hat sich, rotfarbene Blusen und Shirts immer linksherum in den Schrank zu legen beziehungsweise zu hängen. Aber auch Rot ist nicht gleich Rot, es gibt auf jeden Fall mehr verschiedene Rottöne, als eine Bluse Seiten hat.

Dank der Aktion stapeln sich wieder einmal diverse Klamotten auf dem Bügelbrett. Das hat sich das Spieglein selbst eingebrockt!

Jetzt muß ich noch schnell prüfen, ob die Frisur sitzt. Darauf lege ich großen Wert. Dazu fahre ich mir mit den Fingern durchs Haar und verlasse mich ganz auf mein Fingerspitzengefühl. Diese Technik hätte nach dem Auftragen von Make-up, Lidschatten und so weiter bestimmt fatale Folgen. Unabhängig davon hatte ich mit der Schminkerei auch zu Zeiten, als ich mich mit meinem winzigen Sehrest im Spiegel sehen konnte, noch nie was am Hut.
Bei einer Veranstaltung gab mir eine junge Frau beim Verabschieden auf den Weg: Sei froh, daß du dich im Spiegel nicht sehen kannst, dann bleibt dir der Anblick der Falten erspart. Sie meinte das wohl aufmunternd.
Aber ich sage nur Fingerspitzengefühl! Falten lassen sich auch ertasten.

Eigentlich komme ich auch ohne Spieglein ganz gut zurecht. Ich darf mich einmal selbst zitieren:
„Ich orientiere mich an den Nähten und am Etikett, wo rechts und links ist.“

„Strukturen finde ich manchmal ganz fetzig, sie sorgen dafür, daß man sich das Teil gut vorstellen kann.”

Diese Zitate stammen aus einem Interview für das Projekt Wechselwirkung, das dabei ist, eine Kollektion zu schaffen, die den Umgang mit Mode und Bekleidung für Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung vereinfacht und gleichzeitig interessant für Sehende ist.
Auf Facebook und Instagram ist das Projekt Wechselwirkung schon präsent. Und Genaueres dazu gibt es demnächst auch hier im Blog.

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