Blog Blindgaengerin

Clemens Meyer

In dem Gang eines Getränkemarktes steht die Blindgängerin mit einer Kiste Mineralwasser in den Händen. Neben und hinter ihr sind Getränkekisten gestapelt, teilweise bis zur Decke.

In den Gängen

Ein kleiner Unterschied bei der Zeichensetzung, ein großer Unterschied für die Bedeutung! Vom Leerzeichen hängt’s nämlich ab, ob jemand hochstapelt, also mit betrügerischer Absicht eine hohe gesellschaftliche Stellung vortäuscht, oder hoch stapelt und so seiner Arbeit in einem Großmarkt nachgeht. Wer in Supermärkten einkauft, begegnet ihnen in den Gängen, den Männern und Frauen in einheitlicher Arbeitskleidung, die für Nachschub in unseren Konsumtempeln sorgen. Ich höre sie manchmal durch die Regale miteinander flachsen. Sie begleiten mich bei meinen Einkäufen und beraten und helfen auch der sehenden Kundschaft freundlich bei der Suche nach den gewünschten Produkten. Zum Beispiel wird Marion von der Süßwarenabteilung nach Schokolinsen gefragt. Lächelnd verschwindet sie mit dem Kunden um die Ecke und läßt Christian von der Getränkeabteilung stehen, mit dem sie gerade ein Schwätzchen gehalten hat. Wer diesen beiden und deren Kollegen begegnen möchte, was ich wärmstens empfehle, kann dies nur im Kino mit Thomas Stubers Film „In den Gängen“ In der liebenswerten ca. neunköpfigen Truppe herrscht ein harmonischer Umgangston. Sie halten zusammen und einen gigantischen Großmarkt irgendwo in der ostdeutschen Provinz am Laufen, wo gesächselt wird. Bier, Wasser, Saft und Wein kaufen wir seit Jahren in demselben Getränkemarkt bei uns um die Ecke ein. Dort stapelt das Personal in roten T-Shirts die Kästen von Hand aufeinander. Im Großmarkt tragen alle blaue Arbeitskittel. Die Kästen sind auf Paletten fixiert und werden mit einem Gabelstapler in Regale viele Meter hoch gestapelt. Das ist Brunos Reich (Peter Kurth). Meisterhaft beherrscht er seinen Stapler und jongliert mit Europaletten in schwindelerregender Höhe. Als ihm Christian (Franz Rogowski) als Helfer an die Seite gestellt wird, nimmt er den jungen Mann väterlich unter seine Fittiche. Aber bevor Bruno den „Frischling“ anlernt, geht’s erst einmal „in die 15“, so heißt hier die kleine Zigarettenpause zwischendurch. Den Spitznamen „Frischling“ bekommt Christian von Marion (Sandra Hüller) verpaßt, die er vom ersten Augenblick an nicht mehr aus den Augen läßt. Christian ist die zentrale Filmfigur und auch die schweigsamste! Und in Marions Gegenwart, die er so oft wie möglich sucht, bekommt er fast überhaupt kein Wort über die Lippen. Aber es gibt ja die kleine Torte statt vieler Worte und Marion plappert dafür um so mehr kokett flirtend auf ihn ein. In Marions, Brunos und vor allem Christians Leben außerhalb des Großmarktes gewährt der Film nur vage und angedeutete Einblicke. Aber da sind auch noch Irina von der Teigwarenabteilung mit ihrer markanten und verräucherten Stimme, Paletten-Klaus, der seine Ameise, einen Hubwagen mit Elektroantrieb, gegen jeden verteidigt, und Jürgen in dem Zigarettenhäuschen. Dort verkauft er die Rauchware stangenweise und hat immer ein Schachspiel vor sich. Was diese drei privat umtreibt, bleibt außen vor. So auch bei den übrigen, bei denen ich Namen und Personen leider nicht mehr zusammenbringen kann, obwohl ich ihnen damit unrecht tue. Denn alle in den Gängen dieses Großmarktes lassen einen vergessen, daß dies auf der Leinwand geschieht und man selbst gar nicht beim Einkaufen ist! Das ist das Verdienst der Darsteller, des Regisseurs Thomas Stuber und das von Clemens Meyer, der drei Jahre als Gabelstaplerfahrer in einem Großmarkt gearbeitet hat. Seine Kurzgeschichte über diese Lebensphase ist die Grundlage des Drehbuchs. Ich denke, deshalb gehen die Filmfiguren so vertraut und routinemäßig ihrer Arbeit nach, oft ohne viel dabei zu sprechen. Umso wichtiger war die Audiodeskription über die Greta und Starks App! Wer hätte mich sonst während der vielen Dialogpausen auf dem Laufenden gehalten und mich bei den teils waghalsigen Gabelstaplermanövern mitzittern lassen? Entgangen wäre mir auch Marions und Christians zärtliche Eskimobegrüßung in „Sibirien“, dem Kühlraum des Marktes. Ich habe jedes Wort der großartigen Sprecherin mit Genuß in mich aufgesogen und auch die Filmmusik, die das Geschehen den Stimmungen entsprechend abrundet, wie z.B. den genialen Großmarktblues zur Nachtschicht, wie ich ihn nenne! Bevor meine Schicht jetzt und hier zu Ende geht, noch eines: Erst zwei Monate nach Kinostart kam ich in die Gänge und die führten mich in das einzige Programmkino meines Bezirks fast um die Ecke. Oft liegt das Gute so nah. Das Jahresfilmprogramm im „Kino im Kulturhaus Spandau“ wurde schon mehrfach als herausragend ausgezeichnet. Und das werde ich künftig im Blick behalten!

In den Gängen Read More »

Als wir träumten

Der Film lief als offizieller Wettbewerbsbeitrag bei der gerade vergangenen Berlinale. Der Traum, einen Bären zu ergattern, ist leider nicht in Erfüllung gegangen. Letzte Woche war der reguläre Kinostart. Während der Festspiele wurde der Film als einer von dreien mit einer live eingesprochenen Audiodeskription gezeigt. Diese Vorstellung habe ich allerdings verpaßt. Schade ist, daß wieder einmal eine doch schon vorhandene Audiodeskription nicht über die App von Greta verfügbar ist und damit kaum gehört irgendwo rumschmort. Also habe ich völlig unbegleitet versucht, so viel wie möglich von dem Geschehen auf der Leinwand mitzubekommen. Geholfen hat mir Dani in seiner Funktion als Erzähler. Er ist einer der Jungs, die sich in Leipzig kurz nach der Wende orientierungslos herumtreiben und getrieben werden. Oft sitzen die 15- bis 16-jährigen in irgendwelchen Kellern und schmieden Pläne über die Gründung eines Technoclubs. Dabei fließt sehr viel Alkohol, es wird natürlich ständig geraucht, und auch Drogen sind im Spiel. Autos knacken ist fester Bestandteil der Freizeitgestaltung und Freizeit scheint reichlich vorhanden zu sein. Die Schule kommt eindeutig zu kurz und der Einfluß der Erziehungsberechtigten ist nicht der Rede wert. Jedenfalls geht ständig etwas zu Bruch, oft ist das Geräusch von berstendem Glas und Metall zu hören. Gelegentlich ist wohl auch das ein oder andere Nasenbein darunter, den zahlreichen Prügeleien geschuldet. Als nach einigen Anlaufschwierigkeiten der Traum vom Technoclub verwirklicht scheint, schlägt die Mißgunst gnadenlos zu. Glatzköpfige Schlägertypen machen den Clubgründern und ihrem Glauben an die Marktwirtschaft das Leben schwer. Irgendwie geht einfach alles schief, natürlich auch in der Liebe. Wie unkompliziert war dagegen die Welt gerade zwei Jahre zuvor, wenn auch nur noch für kurze Zeit. In den Rückblenden sind die Jungs als 13-jährige Schüler fest eingeschlossen in dem Schul- und Freizeitsystem der DDR zu sehen, wohlbehütet als Pioniere. Einer der Jungs bekommt mächtig Schwierigkeiten, weil er sich weigert, einen Text über die glorreiche Sowjetarmee zu lesen. Bei der Lehrerschaft ist schon die erste Nervosität wegen der wöchentlichen Montagsdemonstrationen zu spüren. Mit einer lächerlichen Begründung warnt sie ihre Schüler, daran teilzunehmen. Aber auch die Lehrer waren ja nur ein Rädchen im Getriebe. Der Film mit seinen von den Darstellern toll gespielten Figuren hat jedenfalls die Situation Jugendlicher und ihre Gefühle kurz nach der Wende glaubhaft gezeigt. Obwohl der Film in Leipzig spielt: Gesäggselt wurde leider so gud wie nie, warum eigentlich nicht? Grundlage für das Drehbuch war das gleichnamige Buch von Clemens Meyer. Trotz höchster Aufmerksamkeit im Kinosaal gebe ich aber keine Garantie, das Geschehen auf der Leinwand richtig wiedergegeben zu haben. Als nächstes geht’s mit Samba, der Mädchenbande und den Béliers nach Frankreich, ich freu mich schon!

Als wir träumten Read More »

Nach oben scrollen