Mein Blind Date mit dem Leben
Mit „mein Blind Date“ ist nicht meins gemeint, sondern seins, und zwar das von Saliya Kahawatte. Und sein erstes Blind Date hat er nicht mit der großen Unbekannten, sondern mit seinem Wecker. Eines Morgens kann er die Ziffern nicht mehr erkennen. Es scheint, als ob sich eine dicke Milchglasscheibe vor das Display geschoben hat. Das ist leider kein böser Traum, aus dem es ein erlösendes Erwachen gibt. Mit 15 verliert Saliya über Nacht den größten Teil seines Augenlichts. Daß eine so schwere Augenerkrankung wie aus heiterem Himmel ausbricht, ist zwar sehr selten, kommt aber öfter vor, als man denkt. Genausowenig wie die Ziffern seines Weckers kann er seine Bücher lesen. Trotzdem geht er weiterhin aufs Gymnasium und besteht dank seines eisernen Willens und seines phänomenalen Gedächtnisses das Abitur. Nach der Schulzeit lehnt er es ab, in einer Behindertenwerkstatt zu arbeiten, und fühlt sich auch nicht zum Masseur oder Telefonisten berufen. Saliya hat schon immer davon geträumt, in einem Luxushotel zu arbeiten. Die Sehbehinderung ist für ihn kein Grund, seinen großen Traum platzen zu lassen. Es zieht ihn weiter in die Welt der allgegenwärtigen zerbrechlichen Gegenstände und herumwuselnden wildfremden Menschen. Nach vielen Absagen beschließt er, seine massiven Augenprobleme zu verschweigen und prompt wird er zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Dieses verläuft zwar etwas chaotisch, aber erfolgreich. Es gelingt ihm, dem Personalchef des altehrwürdigen Münchner Luxushotels Bayerischer Hof seinen ersten Bären aufzubinden und den Sehenden vorzugaukeln. Das klingt nach einem Stoff, aus dem nur Filme gemacht werden! Die bis jetzt beschriebene Filmhandlung ist aber zugleich der Anfang einer unglaublichen Geschichte, die das wahre Leben schrieb. Der heute 47-jährige Saliya Kahawatte verarbeitete seine durchlebten Hochs und Tiefs in seinem Buch „Mein Blind Date mit dem Leben“, das 2009 veröffentlicht wurde und die Filmemacher zu diesem Film inspirierte. 15 Jahre lang bewegt sich Saliya dank seiner ausgeklügelten Täuschungsmanöver und unterstützt von wenigen eingeweihten Freunden in der Hamburger Hotelbranche, ohne daß irgend jemand etwas von seiner Sehschwäche ahnt. Im Film werden diese 15 Jahre zu den drei Ausbildungsjahren im Bayerischen Hof zusammengerafft und Saliyas letzte Schuljahre nur kurz gestreift. Die Filmhandlung, in der Kostja Ullmann in Saliyas Rolle schlüpft, gibt deshalb mächtig Gas. Bis sich Saliya in seinem neuen Umfeld und dem riesigen Hotel die Wege mit allen Stufen und Stolperfallen eingeprägt hat, stolpern wir ihm temporeich mit viel Witz und Situationskomik von einem Blind Date ins nächste hinterher. Von einem Tag auf den anderen muß er spezielle Techniken entwickeln, um heimlich und unbemerkt sein Sehdefizit in Form der dicken Milchglasscheibe auszugleichen. Wie putzt man zum Beispiel einen Spiegel nicht blind, sondern absolut schlierenfrei, und wann ist ein Weinglas perfekt poliert? Das Schneiden der italienischen Mortadella in hauchdünne Scheiben an der Höllenmaschine – ohne daß Blut fließt – will gelernt sein. Beim Mixen von Cocktails lauern gleich zwei Gefahren. Man kann sich bei der Flaschenvielfalt vergreifen und bei der Dosierung der Flüssigkeiten verschätzen. Das alles ist megaanstrengend, aber zu schaffen. Und zwar mit beharrlichem Üben, einem Ordnungssystem, in das niemand dazwischenfunkt, einem geschulten Gefühl, Gehör und Tastsinn und einem wahnsinnig guten Gedächtnis. Das größte Problem dabei wird wahrscheinlich der Zeitdruck sein und das Wissen, immer unter Beobachtung zu stehen. Aber es lauert noch ein, wie ich finde, weitaus größeres Risiko, enttarnt zu werden: In der Gastronomie wird unter dem Personal und im Service viel mit kleinen Gesten und über die Augen kommuniziert. Saliya jedenfalls ist fast rund um die Uhr unter Hochspannung und das kann auf Dauer nicht gutgehen. Aber er hat ja Freunde, auf die er sich verlassen kann. Ich konnte mich während des Films auf die Audiodeskription in meinem Ohr verlassen, ohne die mein Kinobesuch ein Blind Date geblieben wäre. Die ruhige Stimme des Sprechers hing immer über Saliya wie ein guter Geist. Bei seinem Blind Date habe ich auch einige Parallelen zu meinem Blind Date mit dem eigenen Leben feststellen können. Dem sehr jungen Publikum im ausverkauften Kinosaal gab der Film dagegen auf amüsante und lockere Weise einen Einblick in die Welt der nicht bzw. schlecht sehenden Menschen. Es wurde mit Saliya gelitten und sich gefreut, wie er sich durchschlägt. Das fand ich super!
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