Blog Blindgaengerin

März 2016

Raum

Die Ebstorfer Weltkarte gilt als die größte und umfangreichste Weltkarte des Mittelalters. Sie ist rund, weil die Erde bekanntlich eine Scheibe war, und hat einen Durchmesser von etwa 3,6 m. Die ganze Welt auf einer Fläche von gut 10 m²! Noch weniger Platz steht Joy und ihrem Sohn Jack in ihrer ganzen Welt, dem „Raum“, zur Verfügung. Die vier fensterlosen Wände des Raumes bilden ein 9 m² großes Rechteck und die einzige natürliche Lichtquelle ist eine in die Decke eingelassene Glasscheibe. Die Tür zum Raum fiel vor sieben Jahren hinter der damals 17-jährigen Joy ins Schloß. Nach zwei Jahren Einzelhaft der jungen Frau erblickt dort ihr Sohn Jack nicht das Licht der Welt, sondern nur das spärliche Tageslicht im Raum, jedenfalls für seine ersten fünf Lebensjahre. Kurz vor seinem fünften Geburtstag beginnt die Filmgeschichte und zumindest für den Zuschauer öffnet sich die Tür schon einmal einen Spalt breit. Ebenfalls durch diesen Spalt spähen die Hörfilmautoren und lassen Jack und Joy bis zum Schluß nicht mehr aus den Augen. Ohne die beiden beim Schlafen, Waschen und Essen zu stören, wird informativ, aber knapp beschrieben, wie sie sich in ihrem kleinen Lebensraum eingerichtet haben. Der Einzige, der von den beiden Gefangenen weiß und die Tür jederzeit mit einem Zahlencode ganz öffnen kann, ist Old Nick. Seitdem er Joy vor sieben Jahren in einen Hinterhalt lockte, um sie einzusperren, macht er von dieser Möglichkeit auch jede Nacht Gebrauch. Sprachlich hat der Raum seine Wurzeln im althochdeutschen „rumi“, was soviel wie „weit und geräumig“ heißt. Von geräumig kann man bei diesem 9 m² kleinen Gefängnis wohl kaum sprechen. Die Ausstattung und Größe des Raumes unterscheidet sich nur unerheblich von der einer Zelle im deutschen Strafvollzug. Weil dazu auch eine Toilette gehört, kam im Gefängnisjargon die Wortschöpfung des „Wohnklos“ auf. Gefangene haben allerdings den großen Vorteil, durch ein wenn auch vergittertes Fenster nach draußen schauen zu können und ihr Wohnklo gelegentlich verlassen zu dürfen, um an der frischen Luft einmal tief durchzuatmen. Aber für Jacks Welt ist im Multifunktionsraum dank seiner jungen Mutter ausreichend Platz. Mit ihrer grenzenlosen Liebe und Geduld versucht sie mit wenigen bescheidenen Mitteln, aber umso mehr Fantasie, Jacks Welt in dem trostlosen Karton so bunt und abwechslungsreich wie möglich zu gestalten. Als Ersatz für ein Haustier bastelt sie eine Eierschlange, die aus auf einer Schnur aufgefädelten Eierschalenhälften besteht. Diese Kreativkreatur wohnt unter dem Bett und wird wie alle Gegenstände im Raum von Jack jeden Tag mit einem fröhlichen „Guten Morgen!“ begrüßt. Das Gefühl von Beklemmung, das sich immer stärker in mir breit machte, konnte ich leider nicht mit dem Gedanken bekämpfen, daß ja alles nur im Film geschieht. Das Drehbuch für den Film schrieb Emma Donoghue nach der Vorlage ihres Romans „Raum“ aus dem Jahr 2010, bei dem sie sich an den grauenvollen österreichischen Kriminalfall Josef Fritzl anlehnte. Allerdings läßt sie es ihren Figuren nicht ganz so schrecklich wie in der Realität ergehen. Vor allem die Art und Weise, wie der kleine Jack fröhlich und unbekümmert die Filmgeschichte aus seiner Sicht erzählt, läßt den traurigen Hintergrund manchmal vergessen. Bei seiner Mutter Joy merkt man dagegen deutlich, wieviel es ihr abverlangt, dem Jungen das Leben in der Enge erträglich zu machen. Es fällt ihr immer schwerer, auf Jacks Fragen plausible Antworten zu finden. Auch die Bilder von der Welt draußen, die der Fernseher als einziger Luxusgegenstand in den Raum bringt, kann sie ihm kaum noch als Fantasiewelt verkaufen. Menschlich wie schauspielerisch sind die beiden ein sympathisches, unschlagbares und perfekt eingespieltes Team. Deshalb können sie auch den Teufel überlisten und fliehen. Old Nick, wie die beiden ihren Peiniger nennen, ist nicht dessen Name, sondern eine englische Bezeichnung für den Teufel. Obwohl ich bereits vor dem Kinobesuch von der geglückten Flucht wußte, pochte mein Herz vor Aufregung bis zum Hals. Nach der anfänglich übergroßen Freude und Erleichterung wird sehr schnell deutlich, wie schwierig und lang der Prozeß für die beiden sein wird, sich in den vielen Räumen und Freiräumen, die ihnen jetzt offenstehen, zurecht zu finden. Auch die ausschließliche Zweierbeziehung zwischen Mutter und Sohn gibt es von einem auf den anderen Tag so nicht mehr. Während Jack allmählich besonders die schönen Seiten der unverschlossenen Welt entdeckt und zu schätzen lernt, fällt Joy zunächst in ein tiefes Loch. Sie hat zwar ihr Leben zurückbekommen, aber die letzten sieben Jahre sind unwiederbringlich verloren. Aber sie hat Jack und mit seiner Hilfe schöpft sie wieder ein bißchen Lebensmut. Weil der Drehbuchautorin beide Lebensphasen ihrer Filmfiguren gleich wichtig sind, platziert sie die Flucht exakt in die Mitte des Filmes. Genau diese gleiche Gewichtung ist nur eine der großen Stärken des „Raums“, auch wenn ich mich in meinen Artikel nicht daran gehalten habe. Wäre der Hörfilmbeschreibung kein Platz auf der Liste der App Greta eingeräumt worden, hätte ich mich nicht auf den „Raum“ eingelassen. Es gab so viele wortlose, aber umso gestenreichere Szenen mit ausdrucksstarker Mimik, deren Beschreibung mir dank Greta nicht vorenthalten wurde.

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In einem Garten stehen sich zwei Frauen gegenüber, bei beiden handelt es sich um die Blindgängerin. Die linke hat das Haar mit einem Holzstäbchen hochgesteckt und trägt einen roten Kimono mit goldenen Stickereien und schwarzen Borten. Die rechte hat das schulterlange Haar offen und trägt über einer weißen Rüschenbluse ein blauweißkariertes Dirndl mit rosa Schürze. Beide neigen leicht die Köpfe und halten zur Begrüßung die Hände zusammengelegt vor die Brust.

Grüße aus Fukushima

Dirndl trifft auf Kimono! Die deutsch-japanischen Beziehungen sind traditionell freundschaftlich und reichen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Ein Beleg dafür ist der im Januar 1861 zwischen Preußen und Japan geschlossene Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag. Zwei Jahre vor dem 150-jährigen Jubiläum der erstmals offiziell manifestierten Freundschaft vereinbarten beide Staaten, dieses im Jahr 2011 feierlich zu begehen. Allerdings wurde der Freude am Feiern am 11. März ein jähes Ende gesetzt. An diesem Tag waren aller schlechten Dinge drei: Ein Seebeben, ein Tsunami und die Kernschmelze in drei der sechs Reaktorblöcke des Kernkraftwerkes Fukushima! Auch fünf Jahre nach dem Super-GAU leben vor allem ältere Menschen in der Präfektur Fukushima immer noch in Notunterkünften. Sie sind Flüchtlinge in ihrer Heimat und eine Rückkehr in ihre zerstörten und radioaktiv verseuchten Dörfer und Häuser scheint eher unwahrscheinlich. Ähnlich wie alte Bäume möchten Menschen ab einem gewissen Alter nicht mehr so gerne entwurzelt und umgesiedelt werden. So harren die Senioren notgedrungen in den eigentlich nur provisorisch errichteten Containerdörfern aus und leben mehr oder weniger freudlos in den Tag hinein. Das ist die traurige Realität im Jahr 2016 und die schwarzweiße Filmkulisse von „Grüße aus Fukushima“. Dorthin macht sich Marie, Ende zwanzig, von Deutschland aus auf den Weg. Sie hat sich der Organisation Clowns4Help angeschlossen und möchte mit ihrem Clownskostüm im Gepäck den Containerbewohnern ein Lächeln in die Gesichter zaubern. Aber während die Alten ihrem Clownskollegen Moshe, wunderbar gespielt von dem echten Clown Moshe Cohen, fasziniert folgen und begeistert applaudieren, erntet Marie nur verständnislose Blicke. Auch ihr Versuch, die Senioren zum Schwingen der Hüften mit Hula-Hoop-Reifen zu animieren, scheitert kläglich. Wütend, vor allem über sich selbst, ist Marie drauf und dran, ihre Mission abzubrechen, die da lautet: Ich will anderen Menschen helfen, denen es im Vergleich zu mir wirklich schlecht geht, um mein eigenes Leben wieder in den Griff zu bekommen. Aber sie bleibt, legt ihr zwanghaftes und nicht ganz uneigennütziges Helfersyndrom ab und rettet schließlich doch ein Leben und eine Seele. Radioaktivität kann man nicht fühlen, riechen, sehen oder hören, sondern nur messen. Bei ihrer Ankunft läßt das bedrohliche Rattern des Geigerzählers leichte Panik bei Marie aufsteigen. Man versucht, sie damit zu beruhigen, daß die Sperrzone mittlerweile freigegeben sei, also keine Gefahr mehr für Leib und Leben bestünde. Radioaktivität hin oder her, die alte Dame Satomi möchte um jeden Preis der Tristesse des Containerdorfes entfliehen und zurück zu ihren Wurzeln, dem zerstörtem Haus in der Sperrzone. Vielmehr als die Strahlenbelastung fürchtet sie die Erinnerungen an die Bilder der Katastrophe, die sie immer wieder heimsuchen. Besonders nachts quälen Satomi Schuldgefühle, weil sie auf Kosten des Lebens eines geliebten Menschen den Tsunami überlebte. Für solche Fälle hält die japanische Mythologie die viele Jahrhunderte alte Tradition der Yurei bereit. Diese den europäischen Gespenstern ähnlichen Totengeister sind die in der Welt der Lebenden gefangenen Seelen der Toten. Marie besiegt ihre Ängste vor der Radioaktivität und quartiert sich in Satomis Haus ein, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen. Jetzt läßt die Regisseurin Doris Dörrie den Frauen viel Zeit, sich kennen zu lernen und voneinander zu lernen. Das geschieht, abgesehen von einigen wenigen Gefühlsausbrüchen, ohne große Worte und mit vielen Gesten, sehr sensibel und glaubhaft gespielt von Rosalie Thomass und der japanischen Schauspielerin Kaori Momoi. Die vielen Dialogpausen wurden für eine Bildbeschreibung mit viel Liebe zum Detail genutzt. So kam auch ich einmal in den Genuß, den üblicherweise wortlosen Vorführungen der Tricks eines Clowns genauestens folgen zu können. Aber auch die Beschreibung der immer wieder eingeblendeten Bilder von dem Tsunami und den verheerenden Zerstörungen blieben mir nicht erspart. Immer noch erinnere ich mich gerne an die warme und ruhige Stimme der Sprecherin, ähnlich der von Senta Berger, über die App Greta in meinem Ohr. Allmählich findet Satomi, die letzte Geisha von Fukushima, wieder ins Leben zurück und schlüpft aus ihrer Jogginghose in ihren Kimono. „Kiru“ heißt anziehen, „mono“ das Ding und fertig ist das japanische Kleidungsstück Kimono, das einem Kaftan ähnelt. Zusammengehalten wird das Ganze mit einem Gürtel, dem Obi. Satomi versucht nun, der etwas ungelenken und für die japanischen Möbel zu großen Marie die Kultur des Teetrinkens im Fersensitz nahezubringen. Marie entledigt sich ihrer Jeans und streift sich ihr Dirndl über. In den oberdeutschen Dialekten bedeutet Dirndl junges Mädchen, was aber nicht bedeutet, daß in dem typisch bayerischen engtaillierten Trachtenkleid mit Schürze nur junge Mädchen stecken. Was der jungen Frau in ihrem Clownskostüm mißlang, glückt ihr in ihrem Dirndl. Als sie beschwingt von Sake zur Musik von Velvet Underground aus dem Autoradio so eine Art Schuhplattler hinlegt, schüttet sich Satomi aus vor Lachen. Die elegante Geisha Satomi lacht oder schimpft immer mit ihrer knarzenden Originalstimme mal auf japanisch und meistens auf englisch. Die Devise „Man spricht deutsch“ ist die Ausnahme in dem Film. Nur wenn es Marie allzu bunt wird, greift sie auf ihre Muttersprache zurück. Neben der Hauptsprecherin lasen deshalb zusätzlich fünf oder sechs weitere Personen die deutschen Untertitel der jeweiligen Filmfiguren mit viel Emotion in ihren Stimmen vor, ähnlich wie Synchronsprecher. Das war mir zeitweise fast schon ein bißchen zu viel, hat aber einen Grund. Bei der Aufbereitung der Hörfilmfassung für DVD und Fernsehen wird die Lautstärke der Originalstimmen stark heruntergeregelt, es sind dann, anders als im Kinosaal, die Stimmen der deutschen Sprecher im Vordergrund. Warum das so ist, habe ich vergessen zu fragen. Mich hat es jedenfalls sehr gefreut, im Kino die Originalstimmen von Marie, Satomi, dem alten Mönch und all den anderen, meist von japanischen Laiendarstellern gespielten Figuren, hören zu dürfen. Durch sie schickt uns Doris Dörrie auf ihre ganz persönliche Art Grüße aus Fukushima!

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Mustang

Es ist wieder einmal soweit und das Schuljahr geht mit dem lang herbeigesehnten letzten Tag vor den Sommerferien zu Ende. Entsprechend hoch ist der Geräuschpegel auf dem Gelände einer Schule im ländlichen Norden der Türkei, wo sich die Schüler und Lehrer ausgelassen und mit viel Gelächter für die nächsten Wochen voneinander verabschieden. Als der Rocksänger Vincent Damon Furnier im Jahr 1972 in die Welt schrie „School’s out for summer”, war die Schulzeit für ihn schon seit einigen Jahren Geschichte. Aber wir Schüler von damals hatten nun für diesen Tag eine Rockhymne und der amerikanischen Band Alice Cooper gelang damit der internationale Durchbruch. Schon kurze Zeit später löste sich die Band auf und Furnier begann offiziell unter dem Namen Alice Cooper seine Solokarriere. Auch wenn ich an meine Schulzeit nicht besonders wehmütig zurückdenke, freue ich mich wahrscheinlich gerade deshalb immer wieder, diese Hymne im Radio zu hören. Ohne Hymne, aber umso fröhlicher machen sich die fünf Schwestern Lale, Nur, Ece, Selma und Sonay gemeinsam mit einigen Jungs und Mädels von der Schule auf den Heimweg. Sie haben das Glück, bereits dort zu sein, wo sich die meisten ihrer Altersgenossen für die Sommerferien erst noch hinstauen müssen, bei glühender Hitze auf den Rückbänken der elterlichen Fahrzeuge. Das abgelegene Dorf im Norden der Türkei, in dem sie seit dem Tod ihrer Eltern vor zehn Jahren bei der Großmutter leben, liegt nur einen Katzensprung entfernt von einem wunderschönen Sandstrand an der Schwarzmeerküste. Züchtig, ohne sich zuvor der Schuluniformen zu entledigen, stürzen sich die jungen Leute in die Fluten und veranstalten eine Wasserschlacht. Auf den Schultern der Jungs sitzend, versuchen die Mädchen unter großem Gejubel, sich gegenseitig ins Wasser zu schubsen. Nicht Big Brother, sondern viel schlimmer, eine Dorfbewohnerin beobachtet den harmlosen und unbekümmerten Badespaß, der in ihren Augen ein obszönes und höchst verwerfliches Verhalten darstellt. Als die Mädchen gut gelaunt in das Haus ihrer Großmutter stürmen, hat die Spionin dort bereits ganze Arbeit geleistet. Ab sofort heißt es nicht nur „School’s out for summer“ sondern, genau wie weiter im Songtext von Alice Cooper, auch „School’s out forever“! Füllfederhalter, Schulhefte und Bücher, coole Klamotten, Handys und Computer, einfach alles, was man als moderner Teenager so braucht, ist schlagartig tabu. Stattdessen wird die hohe Kunst des Füllens von Weinblättern, Paprikaschoten und Bettdecken gelehrt. Das Haus der Großmutter verwandelt sich hauptsächlich auf Betreiben ihres Sohnes, also des Onkels der Mädchen, so nach und nach zu einem Hochsicherheitstrakt. Das Schlimmste ist jedoch, daß geheiratet werden soll, was man den Mädels vor die Nase setzt. Aber der böse Onkel und die im Grunde ihres Herzens eigentlich gutmütige Großmutter haben die Rechnung ohne die Fünferbande gemacht. Wie eine Herde freiheitsliebender Mustangs versuchen sie, die Zügel abzustreifen und den gegenständlichen wie seelischen Mauern mit viel Fantasie und noch viel mehr Witz zu entfliehen. Dabei haben sie genauso wie der Zuschauer viel Spaß und eine erstaunlich gute Erfolgsquote. Die Regisseurin Deniz Gamze Ergüven erzählt in ihrem überwiegend fiktiven Film sehr berührend von den Schicksalen ihrer fünf Filmmädchen. Sie gewährt einen Einblick in die immer noch männerdominierte Gesellschaft, vor allem in den ländlichen Gebieten der Türkei, wo Weiblichkeit sehr oft auf Sexualität reduziert wird. Sie weiß, wovon sie spricht. Als Tochter eines türkischen Diplomaten wurde sie in Ankara geboren und wuchs abwechselnd in der Türkei, den Vereinigten Staaten und Paris auf. Für mich und natürlich alle Kinoblindgänger wurde dank der Audiodeskription und mit der App Greta die Jalousie hochgezogen und so hatte auch ich freie Sicht durch das Fenster in diese andere Welt. Der Sprecher hat zwischen dem Geplapper und Gelächter der Mädchen gerade noch ausreichend Zeit zu erzählen, wer wo was gerade wie tut, oder einfach nur die wunderschöne Landschaft zu beschreiben. Außerdem ist da noch Lale, die 12-jährige und damit jüngste der Schwestern, die als Erzählerin durch die Geschichte führt. Hilflos muß sie mit ansehen, wie eine Schwester nach der anderen unter die Haube kommt. Aber je näher die Einschläge kommen, umso mehr bäumt Lale sich auf und heckt einen Fluchtplan aus. Der „Mustang“ ging zwar bei der diesjährigen Oscarverleihung ins Rennen um den Preis als bester fremdsprachiger Beitrag, hat aber in letzter Minute wohl leider ein bißchen geschwächelt. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten schon die fünf jungen türkischen Darstellerinnen jeweils einen Oscar verdient. Ihrer natürlichen Spielfreude ist es größtenteils zu verdanken, daß man trotz dieses traurigen Themas mit einem deutlich mehr lachenden als weinendem Auge das Kino verläßt. Viel gewonnen wäre auf jeden Fall, wenn sich die Hoffnung der Regisseurin erfüllt, mit ihren tollen Mädchen die eine oder andere Tür zu öffnen, nicht nur in der Türkei, und ein Mitgefühl für die Mädchen zu schaffen!

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Hail, Caesar!

Der Papa wird’s schon richten, der Papa macht’s schon gut, der Papa, der macht alles, was sonst keiner gerne tut. Ohne diesen Richtepapa wäre die Familie, über die Peter Alexander fröhlich in seinem Schlager von 1981 trällert, ganz schön aufgeschmissen. Ähnlich erginge es im Film „Hail, Caesar!“ einem gewissen Filmstudio im goldenen Zeitalter Hollywoods Anfang der 50er Jahre, wenn nicht Eddie Mannix alles richten würde. Gemeint ist das Studio „Capitol Pictures“, in dem gerade gleichzeitig die Dreharbeiten für einen Western, ein Matrosen-Musical, ein sogenanntes Aqua-Spektakel und ein neues elegantes Gesellschaftsdrama laufen. Aber die größte und alles andere in den Schatten stellende Produktion ist die Verfilmung des biblischen Schwert- und Sandalen-Epos „Hail, Caesar!“. Dieses Pensum zu bewältigen, scheint selbst dann fast unmöglich, wenn alles und jeder wie geschmiert funktioniert. Gleich bei seinen ersten mit ruhiger, tiefer und warmer Stimme gesprochenen Worten stellte ich mir unter Eddie einen älteren, freundlichen, gutmütigen und etwas abgespannten Herrn vor. Der Schauspieler Josh Brolin schätzt an seiner Filmfigur besonders deren väterliche Stärke, Eddie sei eine großartige Vaterfigur. Ich würde noch eine Generation zurückgehen, Eddie hatte für mich eher schon etwas Großväterliches. Das lag vielleicht an dem Synchronsprecher, dessen Stimme mich mal an Mario Adorf, mal an Willy Brandt erinnerte. Auch bei der äußeren Erscheinung des erst 48-jährigen Brolin wurde etwas nachgeholfen. Seine deutsche Stimme ist übrigens 20 Jahre älter. Auch der reale Eddie Mannix war ein Filmproduzent und Studiomanager und lebte von 1891 bis 1963. Für den Film änderten die Coen-Brüder dessen Charakter stark ab. Das kann im Umkehrschluß nur bedeuten, daß der wahre Mannix nicht unbedingt ein angenehmer Zeitgenosse war. In der öffentlichen Wahrnehmung, ganz besonders bei den Damen, ist natürlich George Clooney in der Rolle des Baird Whitlock der Superstar dieses Werkes. Eine Hauptrolle spielt er jedoch nur im FilmFilm, und zwar den Schwert- und Sandalenträger in dem biblischen Epos. Die Figur, die alles zusammenhält, ist aber ganz klar Eddie Mannix. Dabei hat der Zuschauer tausendfach seinen Spaß, Eddie wohl eher weniger. Wäre es doch blosso einfach, „bloß so“ korrekt zu betonen, wie aus einer Spaghetti ein Lasso zu knoten! Der Darsteller des Westernhelden Hobie Doyle (Alden Ehrenreich) kann seine Rolle auch im Alltag nicht ablegen. Dabei sind seine Stärken eindeutig waghalsige Stunts mit Pferden und der Umgang mit dem Lasso. Sich kultiviert auszudrücken, fällt ihm dagegen schwer, erst recht vor laufender Kamera. In einen Anzug gezwängt, scheitert er in seiner neuen Rolle in dem neuen Gesellschaftsdrama, was auch immer das sein mag, bei den Wörtchen „bloß so“ und spricht diese wie Lasso, also „blosso“ aus. Mich würde einmal interessieren, wie sich das in der englischen Originalfassung anhört. Wo er geht und steht, knotet er alles, was er in die Finger bekommt, zu einem Lasso. Nicht einmal die Spaghetti auf dem Teller sind vor seinen Fingern sicher, und das bei einem Abendessen in weiblicher Begleitung. Diese Wirrung mit der Nudel ist nur eine von unzähligen Szenen, für deren Beschreibung trotz vieler Dialoge Zeit blieb. Während sich die Hörfilmbeschreiber wegen der Bilderflut oft beinahe überschlagen mußten, konnte ich mich in meinem Kinosessel genußvoll zurücklehnen und dank der App Greta entspannt der Audiodeskription lauschen. Besonders toll beschrieben war die Choreographie der Wassernixen bei dem Aqua-Spektakel. Bei dem leicht obszönen Stepptanz der Matrosen in dem Musical kam ich doppelt auf meine Kosten. Steppen ist wie Percussion mit den Füßen und was die Mannsbilder dabei so anstellten, wurde mir genauestens zugeflüstert. Aber wenn es den Autoren auch noch so in den Fingern juckt, wenn gesprochen wird, hat die Audiodeskription eben Pause. Ganz besonders gejuckt haben muß es bei dem Gag, als ein ans Kreuz genagelter Statist während der glühenden Abschlußrede des Schwert- und Sandalenträgers gelangweilt gähnte und sich am Bein kratzte. Ihn hat es wohl auch gejuckt. Noch vieles, vieles mehr ließen sich die Coen-Brüder einfallen, um das von ihnen verehrte altehrwürdige Hollywood in all seinen Facetten noch einmal aufleben zu lassen. Für mich hat Hollywood noch eine ganz andere Bedeutung, es ist nämlich der Namensgeber für mein Lieblingsgartenmöbel. Anfang der 50er Jahre kam durch verschiedene Filme aus der Traumfabrik der Durchbruch für die Hollywoodschaukel in Europa. Sie wurde schnell zum Symbol sich modern und mondän gebender Freizeitgestaltung zur Zeit des Wirtschaftswunders. Eddie kann vor Streß nicht einmal einen Gedanken daran verschwenden, sich von einer Verandaschaukel sanft hin und her wiegen zu lassen. Aber zu guter Letzt sind im Film alle Filme im Kasten und die durchgeknallte Cutterin kann Hand anlegen. Sogar für die Außenaufnahmen findet sich trotz Dauerregens eine Lösung. Alle seine Schützlinge sind zufrieden und auch der Richtegroßpapa kommt mit sich ins Reine. Das muß er auch, weil bald heißt es wieder: „Klappe, die erste! And action…!“

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