Blog Blindgaengerin

Oscar

Die Blindgängerin sitzt auf einer Parkbank auf einer mit Bäumen und Sträuchern umgebenen Wiese und schaut in ein Taschenbuch. Sie trägt einen blauen Pullover mit einem schwarzen Gürtel und blaue Jeans. Ein weißes Handtuch ist um die Schultern gelegt. Neben ihr auf der Bank ein Eimer mit Putzlappen, WC-Reiniger, ein Schrubber und eine große Flasche Sangria. An der Rückenlehne der Bank steht die LP "Transformer" von Lou Reed.

Perfect Days

„Perfekt!“Oft wird mit diesem Wörtchen am Ende eines Gesprächs auf den Punkt gebracht, daß alle Beteiligten mit dem Ergebnis mehr als zufrieden sind. Jedenfalls für den Moment. „Perfect Day“In seinem Song aus dem Jahr 1972 philosophiert Lou Reed zu einer wunderschön melancholischen Melodie, wie er sich einen perfekten Tag vorstellt. Mit wem er diesen Tag verbringen möchte, bleibt allerdings offen.„Einfach ein perfekter Tag, im Park Sangria trinken,und dann später, wenn es dunkel wird, gehen wir nach Hause.Einfach ein perfekter Tag, Tiere im Zoo füttern,und dann später noch ins Kino…“ …zum Beispiel in „Perfect Days“! Würde Lou Reed noch leben, hätte er sich den am 21. Dezember 2023 gestarteten Spielfilm von Wim Wenders garantiert schon längst angeschaut. Die beiden waren sehr gute Freunde und der Musiker hatte in drei Filmen des Regisseurs mitgespielt. „Lou wäre auch über die Figur des Hirayama sehr froh gewesen“, meinte der Regisseur in einem Interview im „Der Standard“.Hirayama reinigt öffentliche Toiletten und verbringt seine Pausen in Parks. Im Blaumann und mit einem schwarzen Gürtel sitzt er auf Parkbänken oder Steinstufen. Aber er trinkt keine Sangria, sondern liest in Taschenbüchern. Besonders gefreut hätte sich der Singer-Songwriter auch über Hirayamas Musikgeschmack.Auf dem Weg zur Arbeit schiebt der Toilettenreiniger jedesmal eine andere Kassette mit Musik aus den 70er Jahren – auch meine Musik – in sein Autoradio. Er hört zum Beispiel ein Stück von „The Animals“ oder „Velvet Underground“. Nur Lou Reed kommt mit „Pale Blue Eyes“ und natürlich „Perfect Day“ zweimal zum Zug. Er ist Wim Wenders Lieblingsstimme in der Rockgeschichte und für ihn der Schirmpatron des Films. Wim Wenders war sehr froh, daß er für die Rolle des Hirayama den japanischen Schauspieler Koji Yakusho gewinnen konnte. Der überzeugte schon die Jury bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes im Mai 2023. Ich hätte mich riesig gefreut, wenn ich mit einer Filmbeschreibung über die Greta App in die Welt des sympathischen und bescheidenen Hirayama hätte eintauchen können.„Perfect Days“ ist eine deutsch-japanische Koproduktion ohne deutsche Fördergelder. Eine Audiodeskription lag zum Kinostart nicht vor. Und was es nicht gibt, kann bei der Greta App auch nicht zur Verfügung gestellt werden.Das war so schade! Der eher dialogarme Film lebt vor allem von Bildern. Zum Beispiel – habe ich mir sagen lassen – von Koji Yakushos fantastischem Minenspiel, wie behutsam er als Hirayama mit der Natur und den Menschen umgeht, und mit welcher Sorgfalt und Hingabe er die öffentlichen Toiletten reinigt.Diese Toiletten sind natürlich etwas ganz Besonderes und spielen als Teil des sogenannten„Tokyo Toilet Project“ neben Hirayama die Hauptrolle! Zwischen 2020 und 2023 entwarfen 16 namhafte japanische Architekten und Architektinnen für den Tokioter Stadtteil Shibuya 17 Toilettenanlagen. Jede für sich ist ein Einzelstück, ästhetisch und vielfältig gestaltet und in hohem Standard und inklusiv ausgeführt. Und wie für öffentliche Toiletten besonders wichtig, aber leider die Ausnahme: Die langfristig angelegte Hygiene und Sauberkeit der stillen Örtchen. Zumindest eine vage Vorstellung von einigen der Toilettenanlagen, jede für sich ein Kunstwerk, bekam ich auf der Website: baunetz interior|design https://www.baunetz-id.de Nur so, um eine Idee zu bekommen: Dort wird eine der Anlagen als Raumschiff auf Zwischenlandung beschrieben. Eigentlich verkneife ich mir Kinobesuche, wenn für den Film keine Audiodeskription über die Greta App zur Verfügung steht. Aber bei „Perfect Days“ mußte ich einfach eine Ausnahme machen.Zum einen, weil es der Film, eingereicht von Japan, unter die fünf für den Auslandsoscar Nominierten geschafft hat und schon deshalb in aller Munde ist. Und zum anderen wegen des für mich extrem heiklen Themas „öffentliche Toiletten“! Nur wenn es unbedingt sein muß, aber eigentlich verkneife ich mir den Besuch der finsteren, nicht gerade einladend riechenden kleinen Toilettenhäuschen.Im Fall der Fälle bin ich aber immer mit einem Papiertaschentuch gewappnet und muß für den ersten Eindruck meiner Nase vertrauen. Dann vermeide ich möglichst, mit irgendetwas in Berührung zu kommen. Unterwegs, vor allem bei Bahnfahrten, verkneife ich mir jeden Schluck aus der Wasserflasche und beiße lieber in einen Apfel oder ein Stück Gurke. In Restaurants oder bei Veranstaltungen ist die Lage schon etwas entspannter und die Toiletten in der Regel ordentlich.Wenn es einmal sein muß, frage ich nach einem „Taxi zum Klo“. Ich hoffe, daß mir dies der Regisseur des gleichnamigen Films aus dem Jahr 1980, Frank Ripploh, nicht übelnimmt.Bin ich in weiblicher Begleitung, ist die Sache unkompliziert. Meine Begleiterin leitet mich durch die vielen Türen des WC-Bereichs zu einer freien Kabine, wirft einen Kontrollblick hinein und unterstützt mich beim Finden eines Waschbeckens, des Seifenspenders und so weiter.Die männliche Begleitung muß draußen bleiben und ich habe mich nicht nur einmal zwischen den vielen Türen der riesigen WC-Bereiche verkeilt. Statt wie in Sofia Coppolas Film „Lost in Translation“ aus dem Jahr 2003 bin ich „Lost im WC-Bereich“.Aber letztlich habe ich immer den Weg aus den WC-Labyrinthen gefunden. Und angesichts der Tatsache, daß mehr als 40 % der Weltbevölkerung keinen Zugang zu ausreichend hygienischen Sanitäreinrichtungen haben, ist mein Problem ein Luxusproblem. Seit 2013 macht der 19. November als „Welttoilettentag“ auf diese Misere aufmerksam, ein Welttag der Vereinten Nationen im Kampf für Sanitäranlagen! Der von Japan eingereichte Spielfilm über das Tokyo Toilet Project konkurriert mit vier weiteren Filmen um den Oscar für den besten fremdsprachigen Film.Ins Rennen um die begehrte Trophäe gehen auch der britische Beitrag „The Zone of Interest“ und für Deutschland „Das Lehrerzimmer“ von Ìlker Çatak. Am 10. März fällt in Los Angeles die Entscheidung, für welches Filmteam dieser Tag ein perfekter Tag wird!

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Der Ausstellungsführer, dargestellt, von Lars Eidinger, steht vor einer einer Wand, an der mehrere gerahmte Bilder aufgehängt sind. Sie zeigen moderne, in der Ausstellung als "entartet" bezeichnete Kunst.

Das “Werk ohne Autor”…

…hat mich ohne Vorwarnung eiskalt erwischt! Kaum im extrem bequemen Sessel in einem der stylischen Kinosäle des Berliner Delphi Lux eingekuschelt, schoß mir durch den Kopf: „Was hätten die damals wohl mit mir angestellt? Vielleicht dasselbe wie mit Elisabeth?“ Im Frühjahr 1937 besucht die hübsche und lebenslustige junge Frau mit ihrem fünfjährigen Neffen Kurt in Dresden eine Wanderausstellung über entartete Kunst. Der Ausstellungsführer (Lars Eidinger) gibt zu den Exponaten namhafter Künstler seinen braunen Senf. Den verschärft er dann sinngemäß mit folgender Bemerkung: „Nur Betrachter mit krankhaft sehgeschwächten Augen könnten dies als Kunst bezeichnen und deren Leben müßte sowieso als nicht lebenswertes ausgemerzt werden.“ Das hat gesessen! Als Elisabeth, sehr intensiv und berührend gespielt von Saskia Rosendahl, diese Worte hört, ahnt sie noch nicht, welche grausame Wendung ihr Leben nur ein Jahr später nehmen wird. Bei Elisabeth ist es kein Augenleiden, sondern eine in einem zweifelhaften Verfahren diagnostizierte Schizophrenie. Damit fällt sie unter das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Dort ist die Zwangssterilisation von vermeintlich genetisch Kranken unter anderem bei Schizophrenie und erblicher Blindheit und Taubheit vorgesehen. Hilflos muß Elisabeths Familie zusehen, wie sie abgeholt, in einen Krankenwagen verfrachtet und abtransportiert wird. Dieses Drama bleibt auch dem nun sechsjährigen Kurt nicht erspart. Mir gingen ihre verzweifelten Schreie und die Brutalität, mit der sie überwältigt wird, lange nicht aus dem Kopf. Noch beklemmender ist ihr von vornherein aussichtsloser Versuch, den Leiter der Dresdner Frauenklinik, Prof. Seeband (Sebastian Koch), von der Durchführung der Zwangssterilisation abzubringen. Ganz im Gegenteil, von Elisabeths Auftritt gereizt, setzt der SS-Obersturmbannführer noch eins drauf, nämlich ein rotes Pluszeichen in ihre Akte. Das ist ihr Todesurteil. Im Film wird Elisabeth im Februar 1945 mit einigen anderen Frauen vergast. Aber mußte das wirklich sein, den qualvollen Tod der entblößten Frauen bis zum letzten Atemzug in der Gaskammer mit der Kamera einzufangen? Zumal seit 1943 vor allem systematisches Aushungern und das Verabreichen überdosierter Medikamente die Tötungsmethoden in der Erwachsenen-Euthanasie waren. Nur die Namen, aber nicht die Figuren in „Werk ohne Autor“ sind frei erfunden. Denn inspiriert hat den Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck das Leben und Wirken eines Anderen. Der 1932 in Dresden geborene Gerhard Richter gilt als Deutschlands bedeutendster zeitgenössischer Maler und genießt Weltruhm. Ich – zugegebenermaßen eine Banausin rein visueller Kunst – scheine die einzige zu sein, der dieser Künstler bis jetzt kein Begriff war. Der Figur der Elisabeth liegt das Schicksal von Richters Tante Marianne Schönfelder zugrunde. Ihr Tod ist in einer Akte der sächsischen Heil- und Pflegeanstalt Großschweidnitz, einer Tötungsanstalt für psychisch und geistig Erkrankte, auf den 16. Februar 1945 datiert. Man geht davon aus, daß sie dort elend verhungerte. Vielleicht veranlaßte auch die – wie ich finde – unnötige Abweichung von der Realität Gerhard Richter zu seiner Kritik an von Donnersmarcks Werk, hier nachzulesen: http://www.spiegel.de/kultur/kino/gerhard-richter-ueber-henckel-von-donnersmarck-er-hat-es-geschafft-meine-biografie-zu-missbrauchen-und-uebel-zu-verzerren Aber jetzt war auch im Film der Krieg vorbei und meine düsteren Gedanken verflogen. Die nächsten 20 Jahre dauerten im Kino zwei Stunden und die vergingen wie im Flug! Daß sich Kurt (Tom Schilling), inzwischen Student der Malerei, ausgerechnet in die bildhübsche Tochter des Mannes verliebt, der seine Tante in den Tod geschickt hat, hat sich nicht der Regisseur, sondern das Leben ausgedacht. Und die junge Frau, gespielt von Paula Beer, heißt auch noch Elisabeth. Gerhard Richters erste große Liebe hatte ebenfalls denselben Vornamen wie seine Tante Marianne und war die Tochter des Gynäkologen und SS-Arztes Heinrich Eufinger. Über den an Richters Biographie angelehnten Film wurde seit der Premiere in Venedig im September extrem heftig und kontrovers diskutiert. Ich habe versucht, alles vorher Gehörte auszublenden, und bin nun ein bißchen hin- und hergerissen. Tendenz aber positiv, allein schon wegen des ersten Teils! Und allen Kritikern zum Trotz ist „Werk ohne Autor“ gleich zweimal für den Oscar nominiert, herzlichen Glückwunsch! Wenn ich das richtig sehe, ist er der einzige unter den vielen Oscar-Kandidaten, der im Kino mit Audiodeskription und erweiterten Untertiteln über die Greta und Starks App erlebbar ist. Das ist eigentlich eine sehr traurige Bilanz! Viele Geschehnisse, vor allem die, die nur mit Musik unterlegt waren, hätte ich ohne Hörfilmbeschreibung nicht verstanden. Und wer sonst hätte mir die vielen Bilder und modernen Kunstwerke beschrieben? Die sehr gut gelungene Audiodeskription hat gleich zwei Autoren, Katrin Reiling und Klaus Kaminski. Redaktion führten Noura Gzara und Roger Zepp. Ganz besonders hat mich gefreut, die mir vertraute Stimme des Sprechers Andreas Sparberg zu hören! Die Audiodeskription konkurriert als eine von fünf Nominierten beim Deutschen Hörfilmpreis im März um eine Adele, meine Glückwünsche auch hierzu! Die Autorin des Blogbeitrags macht jetzt Schluß, die hat’s nämlich schon wieder erwischt, diesmal aber nur erkältungsmäßig.

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Toni Erdmann

Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muß sich der Berg eben zum Propheten bewegen. Der Prophet ist in diesem Fall eine Prophetin und heißt Ines Konradi. Die junge Frau, Mitte 30, lebt zurzeit in Bukarest, wo sie sehr erfolgreich als Unternehmensberaterin arbeitet. Der Berg, der sich vernachlässigt fühlt, ist ihr Vater Winfried Konradi, ein gerade pensionierter Musiklehrer mit viel Zeit. Also beschließt er, seine gestreßte Tochter zu ihrem Geburtstag mit einem Überraschungsbesuch zu beglücken. Der Papa hatte bei mir sofort einen „Stein im Brett“. Als er seinen altersschwachen Hund Willi partout nicht überreden kann, sich ins Haus zu bewegen, verbringt Winfried die Nacht gemeinsam mit dem Tier im Garten auf der Erde schlafend. Am nächsten Morgen liegt Willi tot unter einem Baum. Er hat sich und seinem Herrchen den schrecklichen letzten Weg zum Tierarzt erspart. Oft steht die Freude des Überraschers im umgekehrten Verhältnis zu der des Überraschten. So ist Ines, was die Reine, Heilige, Geweihte und Keusche bedeutet, nur wenig über das plötzliche Auftauchen ihres Vaters in Bukarest begeistert, wo er sich in ihr Privatleben und berufliches Umfeld einmischt. Zudem hat die Prophetin nach wie vor keine Zeit. Ihr Job besteht aber nicht darin, göttliche Botschaften zu verkünden. Sie versucht gerade, ihrem wichtigsten Kunden das von ihr ausschließlich unter irdischen Gewinnoptimierungsaspekten entwickelte Konzept als das Profitabelste zu verkaufen. Nach einigen Tagen scheint der Berg zu kapitulieren und den Rückzug anzutreten. Aber Winfried, der Friedensuchende, bleibt und schlüpft in die Identität des Toni Erdmann. Wahrscheinlich bin ich die Einzige, die mit Ion Tiriac, dessen Coach und Tennisfreund Toni Erdmann zu sein vorgibt, nichts anfangen konnte. Falls es noch jemandem so geht: Er ist inzwischen der reichste Mann Rumäniens und war einst ein sehr erfolgreicher Tennisspieler und Manager u.a. von Boris Becker. Mit der Figur Toni Erdmann kommt allmählich etwas Schwung in die festgefahrene Vater-/ Tochterbeziehung. Im vollbesetzten Kinosaal gab es Szenenapplaus für eine fast fünfminütige musikalische Einlage. Toni Erdmann am Keyboard und Ines, die er als die fabelhafte Sängerin Whitney Schnuck vorstellt, geben „The Greatest Love of All“ zum Besten. Nach einigen Takten beginnt Ines etwas unsicher zu singen, faßt dann immer mehr Vertrauen zu ihrer Stimme und wagt sich selbstvergessen und mit Inbrunst in die höchsten Tonlagen. Hinter Whitney Houston, die 1986 mit ihrer Coverversion dieses Songs einen Nummer-eins-Hit landete, braucht sie sich keinesfalls zu verstecken. Kaum ist der letzte Ton verklungen, erwacht sie wie aus einem Tagtraum und stürmt in ihr als reine Schlafstätte genutztes Appartement. Nachdem dort ein Cateringservice das Buffet für ihre Geburtstagsfeier aufgebaut und das Wohnzimmer mit etwas Deko wohnlicher gestaltet hat, ist es höchste Zeit, sich in das passende Party-Outfit zu stürzen. Das erweist sich als ein sehr verzwicktes und verwurschteltes Unterfangen und endet mit einem für ihre Gäste verblüffend minimalistischen Ergebnis. Minimalistisch war auch meine Hoffnung, die Hörfilmbeschreibung für Toni Erdmann in meinem Lieblingskino unkompliziert in mein Ohr geflüstert zu bekommen. Zwei Tage vorm Kinostart schien es noch gewiß, daß ich mir meine eigenen Bilder zum Film zurechtbasteln müßte. Im Nachhinein kann ich sagen, das wäre mächtig in die Hose gegangen. Ohne die Beschreibung der unzähligen visuellen Details, bei denen sich die Drehbuchautorin und Regisseurin Maren Ade natürlich etwas gedacht hat, hätte der Film in meinem Kopf mit dem auf der Leinwand wenig Ähnlichkeit gehabt. Problematisch wären auch die rumänischen nur mit Untertiteln versehenen Dialoge gewesen. Die sonst hilfreichen Geräusche hätten nicht einmal zum richtigen Rückschluß bei der einzigen und einzigartigen Sexszene geführt. Wie auch, wenn sich der weibliche Part mit ausreichendem Sicherheitsabstand und ohne einen Mucks von sich zu geben, die Sache mehr oder weniger genüßlich auf der Zunge zergehen läßt. Aber zu meiner sehr großen Freude hieß es dann doch noch: Daumen hoch für die App Greta und Starks! Dafür möchte ich mich hier herzlichst bei allen an diesem Entscheidungsprozeß Beteiligten bedanken! So konnte ich genauso oft lachen wie die anderen Zuschauer im Saal, wenn auch meist einen klitzekleinen Tick später. Schließlich mußte ich ja noch kurz der Audiodeskription lauschen. Ich hätte dem Berg (Peter Simonischek) und der Prophetin (Sandra Hüller) wie auch den anderen Filmfiguren noch viel länger zuschauen können, wie sie gemeinsam Maren Ades kritische Beobachtungen meist urkomisch, aber auch mit dem nötigen Ernst auf die Leinwand zauberten. Aber nach 162 Minuten hieß es dann doch: „Das Bild wird schwarz“!

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Vor der Morgenröte – Stefan Zweig in Amerika

Kannst Du Dir vorstellen, hier zu leben? Das fragten sich der Schauspieler und Entertainer Joachim Fuchsberger und seine Frau Gundula immer wieder bei ihren zahlreichen Reisen rund um den Erdball. In Australien bzw. Tasmanien waren sie sich schließlich einig. Seit dem Jahr 1983 hatten die Fuchsbergers neben München einen zweiten Wohnsitz in Hubart, der Hauptstadt Tasmaniens. Im selben Jahr wurde in Salzburg auf dem Kapuzinerberg eine Büste von Stefan Zweig aufgestellt. Genau dort wollte der am 28. November 1881 in Wien geborene Schriftsteller leben. Der Doktor der Philosophie Stefan Zweig pflegte einen großbürgerlichen Lebensstil. Schon vor den zwanziger Jahren unternahm er Reisen nach Indien, Amerika und 1928 in die Sowjetunion. Nie hatte er jedoch Ambitionen, irgendwo anders als in seiner Heimat Österreich zu leben. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges kaufte er das baufällige Paschinger Schlössl am Kapuzinerberg, das er ab 1920 mit seiner Ehefrau Friderike und deren beiden Töchtern bewohnte. Schon sehr früh nahm der jüdische Schriftsteller, Humanist und Pazifist die nationalsozialistische Bedrohung ernst. Sie befand sich quasi in Sichtweite seines Hauses, auf dem Obersalzberg, Hitlers Domizil. Als er dann auch noch denunziert wurde und eine Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen mußte, nahmen im Februar 1934 seine Salzburger Jahre ein jähes Ende. Zwei Tage nach diesem Vorfall machte er sich allein auf den Weg nach London. Er sollte seine Heimat, den Kapuzinerberg in Salzburg, nicht mehr wiedersehen. „Vor der Morgenröte“ des 23. Februar 1942 nahm sich der 60-jährige im Exil in Petropolis bei Rio de Janeiro das Leben. Die Regisseurin Maria Schrader läßt den österreichischen Schauspieler Josef Hader als Stefan Zweig an der dramatischen Entwicklung zunächst in dessen Heimat und später in ganz Europa vom sicheren Amerika aus verzweifeln. Daß er dabei so überzeugt, liegt an Haders Schauspielkunst. Mit wem er an welchen Orten unter welchen Umständen in Amerika zusammentrifft, stammt aus den feinfühlig und geschickt geführten Federn der Drehbuchautoren Maria Schrader und Jan Schomburg. Und wie das fern der Heimat nun einmal so ist, man spricht kaum deutsch! Das war für die rundum gelungene Arbeit der Hörfilmbeschreiber eine zusätzliche und große Herausforderung. Mit insgesamt zehn Sprechern und Sprecherinnen wurden ähnlich wie beim Synchrondolmetschen die vielen englischen, französischen, spanischen und portugiesischen Dialoge übersetzt, ohne die Originalstimmen dabei zu übertönen. Müßte ich mich für eine zweite Heimat entscheiden, wäre das Frankreich, wo ich mich auch gerade aufhalte. Aber nach einer Weile würde ich die deutsche Sprache, in der ich mich zu Hause fühle, doch sehr vermissen. Das wird Stefan Zweig im Exil nicht anders gegangen sein. Anläßlich des Schriftstellerkongresses in Südamerika im September 1936 gedenken die dort in Sicherheit gelangten Autoren ihrer zurückgebliebenen Kollegen. Es wird sehr heftig und kontrovers über die Formulierung einer gemeinsamen politischen Verurteilung Deutschlands diskutiert. Zweig fühlt sich als Außenseiter und seine Verzweiflung wird dort zum ersten Mal deutlich sichtbar. Alle Namen auf der Liste der im Jahr 1935 verbotenen Autoren, deren Bücher den Flammen zum Opfer gefallen waren, werden verlesen. Hoffentlich wiederholt sich solch ein frevelhaftes Spektakel in der Geschichte nie wieder. Die in den digitalen Medien üblichen Shitstorms finde ich schon schlimm genug. Etwas irritiert an Stefan Zweigs Biographie hat mich, daß er 1934 ohne seine Familie nach London floh. Während seines Aufenthaltes in England begann er ein Verhältnis mit seiner Sekretärin Lotte, die er 1939 heiratete. Seiner geschiedenen Frau gelang 1941 gerade noch rechtzeitig und unter großen Strapazen mit ihren Töchtern die Flucht nach New York, wo sich die geschiedenen Eheleute auch noch einmal trafen. Von den Filmfrauen hat mich seine erste, gespielt von Barbara Sukowa, sehr viel mehr überzeugt. Das ist jetzt sehr gewagt, aber vielleicht hätte sie Zweigs Suizid verhindern können? In dem auf Deutsch verfaßten Abschiedsbrief schrieb Zweig unter anderem, daß ihn die Zerstörung seiner „geistigen Heimat Europa“ entwurzelt hätte. Er hielt es nicht einmal bis zur Morgenröte des 23. Februar aus, geschweige denn, daß er bis zum Ende des Krieges im Exil hätte ausharren können. Seine Frau Lotte ist ihm in den Tod gefolgt. Der Berliner Schriftsteller und Journalist jüdischer Herkunft Ernst Feder (Matthias Brandt) traf im Sommer 1941 mit seiner Frau in Petropolis ein. Er verbrachte viel Zeit mit Zweig, z.B. beim Schachspiel, und sah ihn als Letzter lebend. Erst 1957 ging Feder zurück in seine Heimatstadt, wo er 1964 verstarb. Die Entscheidung der Fuchsbergers, sich in Tasmanien niederzulassen, war eine Luxusentscheidung. Aber auch sie kehrten nach einigen Monaten immer wieder in ihre Heimat nach München zurück.

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Ein Mann namens Ove

Klappt’s mit dem oder noch besser mit allen Nachbarn, dann ist das schon die halbe Miete. Harmonische und gut funktionierende Mietergemeinschaften sind keine Seltenheit. Man sitzt in einem Boot, und das nicht nur bei Wasserschäden. Der gemeinsame Gegner ist entweder der Vermieter oder die von ihm beauftragte Hausverwaltung. Beide lassen gefühlt keine Gelegenheit ungenutzt, den Mietern das Leben schwer zu machen. Bei Eigentümergemeinschaften tilgt der einzelne Wohnungs- oder Hauseigentümer seinen Kredit bei einer Bank. Das Wohngeld zur Begleichung der laufenden Kosten überweist er an die von der Gemeinschaft ausgewählte und einstimmig oder per Mehrheitsbeschluß bestellte Verwaltung. Es fehlt also das gemeinsame Feindbild. Ich wage zu behaupten, daß es in jeder Eigentümergemeinschaft mindestens einen Stinkstiefel gibt, der den Miteigentümern und der Verwaltung mit den absurdesten Ideen auf die Nerven geht. Vorausgesetzt, man muß in solch einer Gemeinschaft nicht wohnen oder diese verwalten, kann man darüber nur verwundert den Kopf schütteln oder einfach darüber lachen. Als ob nicht jede Minute Streit verschenkte Lebenszeit wäre und gerade Nachbarn sich helfen und zusammenhalten sollten! Zu dieser Einsicht kommt „Ein Mann namens Ove“ zwar spät, aber nicht zu spät. In die deutschen Kinos kam er für die Kinoblindgänger gGmbH aber leider zu früh! Ove aus Schweden hat mich sehr begeistert. Zu gern und bestimmt auch zu Maries großer Freude hätte ich ihn mit einer Hörfilmbeschreibung und Untertiteln ausgestattet und über die Apps Greta und Starks im Kinosaal ins Ohr bzw. vors Auge gebracht (Wer ist Marie? www.kinoblindgaenger.com) Die erste Spende (250,00 Euro) ist übrigens schon eingegangen! Über die Dialogpausen hat mich mein freundlicher Nachbar mit diskretem Zugeflüster vom Kinosessel nebenan so gut es ging hinweggerettet. Ove stützt meine oben aufgestellte These mit dem Stinkstiefel allerdings nur in abgeschwächter Form. Er wohnt in einem hübschen Holzhäuschen in einer sehr gepflegten Einfamilienhaus-Siedlung irgendwo in Schweden. Jeden Morgen dreht er seine Runde, um zu kontrollieren, ob die Siedlungsbewohner die überall angebrachten kleinen gelben Verbotsschilder auch respektieren. Das tun sie natürlich nicht und es scheint ihm großes Vergnügen zu bereiten, seine Nachbarn ruppig und mürrisch zurechtzuweisen. Das klingt eigentlich nicht unbedingt nach einem Sympathieträger, aber trotzdem mochte ich Ove von Anfang an. Er ist gradlinig, konsequent und hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Ausgestattet mit einem gesunden Menschenverstand und einer Portion Witz und Wortwitz läßt er sich auch nicht von seinen Vorgesetzten oder staatlichen Autoritäten auf der Nase herumtanzen. In Schweden scheint es üblich zu sein, daß sich Hauseigentümer wie hier in der Siedlung in einem Verein zusammentun, um ein gesittetes Miteinander auf den gemeinsam benutzten Straßen und Flächen zu organisieren und diese auch zu pflegen. Ove stand dem Nachbarschaftsverein solange als Präsident vor, bis er von seinem besten Freund Rune – wie er meint – „weggeputscht“ wurde. Aber auch schon vor diesem Drama standen sich die Freunde als Kontrahenten gegenüber und veranstalteten in ihren Garagen ein Wettrüsten. Saab oder Volvo, das muß wohl eine hochideologische Grundfrage gewesen sein. Ob man bei 59 Lebensjahren von einem jüngeren oder älteren Menschen spricht, hängt auch maßgeblich vom Alter des Betrachters ab. Von einem „alten Schweden“ möchte ich bei Ove daher nicht sprechen, er ist allenfalls ein bißchen lebensmüde. Im wahrsten Sinne des Wortes steinalt ist ein Findling, der vor 17 Jahren bei Baggerarbeiten in der Elbe entdeckt und auf den Namen „Alter Schwede“ getauft wurde. Der 217 t schwere Koloss hat einen Umfang von fast 20 m und wanderte während der „Elster-Eiszeit“ vor 320.000 bis 400.000 Jahren mit einem Gletscher Richtung Hamburg. Ein bißchen kann man Ove, wunderbar gespielt von Rolf Lassgård, dem Ur-Wallander, sogar mit dem Findling vergleichen. An seiner rauhen, etwas grauen Schale scheint alles abzuprallen. Sein Kern ist allerdings wachsweich. Er kann seine fünf Selbstmordversuche nur deshalb nicht erfolgreich beenden, weil er sie vorher abbricht, um jemandem zu helfen oder jemanden zu retten. Er ist eben ein Macher und kann einfach nicht anders. Nur ein Versuch scheitert ausschließlich an Materialermüdung. Er gab Sonja, der viel zu früh verstorbenen großen Liebe seines Lebens, das Versprechen, ihr so bald wie möglich zu folgen. Daß er dieses Versprechen nicht wie geplant einhalten kann und sogar wieder Freude am Leben gewinnt, verdankt er seinen neuen Nachbarn. Anfangs ist er entsetzt, daß sich ausgerechnet direkt neben ihm ein Ehepaar mit zwei Kindern einnistet. Seine neue Nachbarin Parvaneh (Bahar Pars) ist zu allem Überfluß nicht einmal Schwedin und auch noch schwanger. Aber gegen ihr herzhaftes Lachen ist auch ein Mann namens Ove nicht gewappnet. Zum Glück hatte und habe ich immer tolle Nachbarn, man hilft sich, hat Spaß miteinander, ohne sich zu eng auf die Pelle zu rücken. Wenn es bei mir nur mit auf Hochglanz polierten Gläsern beim Nachbarn klappen würde, hätte ich ganz schön trübe Aussichten!

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Raum

Die Ebstorfer Weltkarte gilt als die größte und umfangreichste Weltkarte des Mittelalters. Sie ist rund, weil die Erde bekanntlich eine Scheibe war, und hat einen Durchmesser von etwa 3,6 m. Die ganze Welt auf einer Fläche von gut 10 m²! Noch weniger Platz steht Joy und ihrem Sohn Jack in ihrer ganzen Welt, dem „Raum“, zur Verfügung. Die vier fensterlosen Wände des Raumes bilden ein 9 m² großes Rechteck und die einzige natürliche Lichtquelle ist eine in die Decke eingelassene Glasscheibe. Die Tür zum Raum fiel vor sieben Jahren hinter der damals 17-jährigen Joy ins Schloß. Nach zwei Jahren Einzelhaft der jungen Frau erblickt dort ihr Sohn Jack nicht das Licht der Welt, sondern nur das spärliche Tageslicht im Raum, jedenfalls für seine ersten fünf Lebensjahre. Kurz vor seinem fünften Geburtstag beginnt die Filmgeschichte und zumindest für den Zuschauer öffnet sich die Tür schon einmal einen Spalt breit. Ebenfalls durch diesen Spalt spähen die Hörfilmautoren und lassen Jack und Joy bis zum Schluß nicht mehr aus den Augen. Ohne die beiden beim Schlafen, Waschen und Essen zu stören, wird informativ, aber knapp beschrieben, wie sie sich in ihrem kleinen Lebensraum eingerichtet haben. Der Einzige, der von den beiden Gefangenen weiß und die Tür jederzeit mit einem Zahlencode ganz öffnen kann, ist Old Nick. Seitdem er Joy vor sieben Jahren in einen Hinterhalt lockte, um sie einzusperren, macht er von dieser Möglichkeit auch jede Nacht Gebrauch. Sprachlich hat der Raum seine Wurzeln im althochdeutschen „rumi“, was soviel wie „weit und geräumig“ heißt. Von geräumig kann man bei diesem 9 m² kleinen Gefängnis wohl kaum sprechen. Die Ausstattung und Größe des Raumes unterscheidet sich nur unerheblich von der einer Zelle im deutschen Strafvollzug. Weil dazu auch eine Toilette gehört, kam im Gefängnisjargon die Wortschöpfung des „Wohnklos“ auf. Gefangene haben allerdings den großen Vorteil, durch ein wenn auch vergittertes Fenster nach draußen schauen zu können und ihr Wohnklo gelegentlich verlassen zu dürfen, um an der frischen Luft einmal tief durchzuatmen. Aber für Jacks Welt ist im Multifunktionsraum dank seiner jungen Mutter ausreichend Platz. Mit ihrer grenzenlosen Liebe und Geduld versucht sie mit wenigen bescheidenen Mitteln, aber umso mehr Fantasie, Jacks Welt in dem trostlosen Karton so bunt und abwechslungsreich wie möglich zu gestalten. Als Ersatz für ein Haustier bastelt sie eine Eierschlange, die aus auf einer Schnur aufgefädelten Eierschalenhälften besteht. Diese Kreativkreatur wohnt unter dem Bett und wird wie alle Gegenstände im Raum von Jack jeden Tag mit einem fröhlichen „Guten Morgen!“ begrüßt. Das Gefühl von Beklemmung, das sich immer stärker in mir breit machte, konnte ich leider nicht mit dem Gedanken bekämpfen, daß ja alles nur im Film geschieht. Das Drehbuch für den Film schrieb Emma Donoghue nach der Vorlage ihres Romans „Raum“ aus dem Jahr 2010, bei dem sie sich an den grauenvollen österreichischen Kriminalfall Josef Fritzl anlehnte. Allerdings läßt sie es ihren Figuren nicht ganz so schrecklich wie in der Realität ergehen. Vor allem die Art und Weise, wie der kleine Jack fröhlich und unbekümmert die Filmgeschichte aus seiner Sicht erzählt, läßt den traurigen Hintergrund manchmal vergessen. Bei seiner Mutter Joy merkt man dagegen deutlich, wieviel es ihr abverlangt, dem Jungen das Leben in der Enge erträglich zu machen. Es fällt ihr immer schwerer, auf Jacks Fragen plausible Antworten zu finden. Auch die Bilder von der Welt draußen, die der Fernseher als einziger Luxusgegenstand in den Raum bringt, kann sie ihm kaum noch als Fantasiewelt verkaufen. Menschlich wie schauspielerisch sind die beiden ein sympathisches, unschlagbares und perfekt eingespieltes Team. Deshalb können sie auch den Teufel überlisten und fliehen. Old Nick, wie die beiden ihren Peiniger nennen, ist nicht dessen Name, sondern eine englische Bezeichnung für den Teufel. Obwohl ich bereits vor dem Kinobesuch von der geglückten Flucht wußte, pochte mein Herz vor Aufregung bis zum Hals. Nach der anfänglich übergroßen Freude und Erleichterung wird sehr schnell deutlich, wie schwierig und lang der Prozeß für die beiden sein wird, sich in den vielen Räumen und Freiräumen, die ihnen jetzt offenstehen, zurecht zu finden. Auch die ausschließliche Zweierbeziehung zwischen Mutter und Sohn gibt es von einem auf den anderen Tag so nicht mehr. Während Jack allmählich besonders die schönen Seiten der unverschlossenen Welt entdeckt und zu schätzen lernt, fällt Joy zunächst in ein tiefes Loch. Sie hat zwar ihr Leben zurückbekommen, aber die letzten sieben Jahre sind unwiederbringlich verloren. Aber sie hat Jack und mit seiner Hilfe schöpft sie wieder ein bißchen Lebensmut. Weil der Drehbuchautorin beide Lebensphasen ihrer Filmfiguren gleich wichtig sind, platziert sie die Flucht exakt in die Mitte des Filmes. Genau diese gleiche Gewichtung ist nur eine der großen Stärken des „Raums“, auch wenn ich mich in meinen Artikel nicht daran gehalten habe. Wäre der Hörfilmbeschreibung kein Platz auf der Liste der App Greta eingeräumt worden, hätte ich mich nicht auf den „Raum“ eingelassen. Es gab so viele wortlose, aber umso gestenreichere Szenen mit ausdrucksstarker Mimik, deren Beschreibung mir dank Greta nicht vorenthalten wurde.

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Mustang

Es ist wieder einmal soweit und das Schuljahr geht mit dem lang herbeigesehnten letzten Tag vor den Sommerferien zu Ende. Entsprechend hoch ist der Geräuschpegel auf dem Gelände einer Schule im ländlichen Norden der Türkei, wo sich die Schüler und Lehrer ausgelassen und mit viel Gelächter für die nächsten Wochen voneinander verabschieden. Als der Rocksänger Vincent Damon Furnier im Jahr 1972 in die Welt schrie „School’s out for summer”, war die Schulzeit für ihn schon seit einigen Jahren Geschichte. Aber wir Schüler von damals hatten nun für diesen Tag eine Rockhymne und der amerikanischen Band Alice Cooper gelang damit der internationale Durchbruch. Schon kurze Zeit später löste sich die Band auf und Furnier begann offiziell unter dem Namen Alice Cooper seine Solokarriere. Auch wenn ich an meine Schulzeit nicht besonders wehmütig zurückdenke, freue ich mich wahrscheinlich gerade deshalb immer wieder, diese Hymne im Radio zu hören. Ohne Hymne, aber umso fröhlicher machen sich die fünf Schwestern Lale, Nur, Ece, Selma und Sonay gemeinsam mit einigen Jungs und Mädels von der Schule auf den Heimweg. Sie haben das Glück, bereits dort zu sein, wo sich die meisten ihrer Altersgenossen für die Sommerferien erst noch hinstauen müssen, bei glühender Hitze auf den Rückbänken der elterlichen Fahrzeuge. Das abgelegene Dorf im Norden der Türkei, in dem sie seit dem Tod ihrer Eltern vor zehn Jahren bei der Großmutter leben, liegt nur einen Katzensprung entfernt von einem wunderschönen Sandstrand an der Schwarzmeerküste. Züchtig, ohne sich zuvor der Schuluniformen zu entledigen, stürzen sich die jungen Leute in die Fluten und veranstalten eine Wasserschlacht. Auf den Schultern der Jungs sitzend, versuchen die Mädchen unter großem Gejubel, sich gegenseitig ins Wasser zu schubsen. Nicht Big Brother, sondern viel schlimmer, eine Dorfbewohnerin beobachtet den harmlosen und unbekümmerten Badespaß, der in ihren Augen ein obszönes und höchst verwerfliches Verhalten darstellt. Als die Mädchen gut gelaunt in das Haus ihrer Großmutter stürmen, hat die Spionin dort bereits ganze Arbeit geleistet. Ab sofort heißt es nicht nur „School’s out for summer“ sondern, genau wie weiter im Songtext von Alice Cooper, auch „School’s out forever“! Füllfederhalter, Schulhefte und Bücher, coole Klamotten, Handys und Computer, einfach alles, was man als moderner Teenager so braucht, ist schlagartig tabu. Stattdessen wird die hohe Kunst des Füllens von Weinblättern, Paprikaschoten und Bettdecken gelehrt. Das Haus der Großmutter verwandelt sich hauptsächlich auf Betreiben ihres Sohnes, also des Onkels der Mädchen, so nach und nach zu einem Hochsicherheitstrakt. Das Schlimmste ist jedoch, daß geheiratet werden soll, was man den Mädels vor die Nase setzt. Aber der böse Onkel und die im Grunde ihres Herzens eigentlich gutmütige Großmutter haben die Rechnung ohne die Fünferbande gemacht. Wie eine Herde freiheitsliebender Mustangs versuchen sie, die Zügel abzustreifen und den gegenständlichen wie seelischen Mauern mit viel Fantasie und noch viel mehr Witz zu entfliehen. Dabei haben sie genauso wie der Zuschauer viel Spaß und eine erstaunlich gute Erfolgsquote. Die Regisseurin Deniz Gamze Ergüven erzählt in ihrem überwiegend fiktiven Film sehr berührend von den Schicksalen ihrer fünf Filmmädchen. Sie gewährt einen Einblick in die immer noch männerdominierte Gesellschaft, vor allem in den ländlichen Gebieten der Türkei, wo Weiblichkeit sehr oft auf Sexualität reduziert wird. Sie weiß, wovon sie spricht. Als Tochter eines türkischen Diplomaten wurde sie in Ankara geboren und wuchs abwechselnd in der Türkei, den Vereinigten Staaten und Paris auf. Für mich und natürlich alle Kinoblindgänger wurde dank der Audiodeskription und mit der App Greta die Jalousie hochgezogen und so hatte auch ich freie Sicht durch das Fenster in diese andere Welt. Der Sprecher hat zwischen dem Geplapper und Gelächter der Mädchen gerade noch ausreichend Zeit zu erzählen, wer wo was gerade wie tut, oder einfach nur die wunderschöne Landschaft zu beschreiben. Außerdem ist da noch Lale, die 12-jährige und damit jüngste der Schwestern, die als Erzählerin durch die Geschichte führt. Hilflos muß sie mit ansehen, wie eine Schwester nach der anderen unter die Haube kommt. Aber je näher die Einschläge kommen, umso mehr bäumt Lale sich auf und heckt einen Fluchtplan aus. Der „Mustang“ ging zwar bei der diesjährigen Oscarverleihung ins Rennen um den Preis als bester fremdsprachiger Beitrag, hat aber in letzter Minute wohl leider ein bißchen geschwächelt. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten schon die fünf jungen türkischen Darstellerinnen jeweils einen Oscar verdient. Ihrer natürlichen Spielfreude ist es größtenteils zu verdanken, daß man trotz dieses traurigen Themas mit einem deutlich mehr lachenden als weinendem Auge das Kino verläßt. Viel gewonnen wäre auf jeden Fall, wenn sich die Hoffnung der Regisseurin erfüllt, mit ihren tollen Mädchen die eine oder andere Tür zu öffnen, nicht nur in der Türkei, und ein Mitgefühl für die Mädchen zu schaffen!

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Whiplash

Rhythmus im Allgemeinen und das Instrument Schlagzeug im Besonderen fasziniert mich so lange ich denken kann. Ein Schlagzeugset besteht meistens aus sieben verschiedenen Trommeln und Becken. Trotz meines ganz gut ausgeprägten Rhythmusgefühls ist es mir bei meinen Versuchen an diesem Instrument nicht gelungen, mit dem Fuß und jeweils der rechten wie linken Hand verschiedene Tempi zu spielen. Jemals mit den Sticks im richtigen Moment die richtigen Teile zu treffen, die ja auf eine Fläche von 2 m² verteilt sind, schien mir aussichtslos. Da lag es nahe, mich für Percussion, also Djembé, Conga und Pandeiro zu entscheiden. Bei allen drei Instrumenten hat man mit den Händen direkten Kontakt zum Fell. An der Faszination, die das Schlagzeug auf mich ausübt, hat sich jedoch bis heute nichts geändert, also mußte ich mir den Film „Whiplash“ unbedingt anschauen! Mein Begleiter Andreas Pasche, sowohl ein Freund als auch ein seit 30 Jahren passionierter Schlagzeuger, hat mich mangels einer Hörfilmbeschreibung ins Bild gesetzt. Mit einer von ihm gegründeten Band spielt er Latin Jazz, in einer Bigband namens Kameleon Percussion und aushilfsweise das Schlagzeug. Ich hatte also auch noch einen Fachmann an meiner Seite. Das US-amerikanische Musikfilmdrama spielt in dem fiktiven Shaffer Conservatory of Music in New York. Mr. Fletcher ist der Leiter der schuleigenen Jazzband und entscheidet über Gedeih und Verderb der Mitspieler der Bigband. Als er den Schlagzeugschüler Andrew beim Üben überrascht, hält er den Daumen hoch und Andrew darf sich ab sofort mit den beiden anderen Drummern um die Gunst des Leiters bemühen. Die Atmosphäre bei den Proben erinnert an den Drill auf einem Militärübungsplatz. Fletcher bellt einen Songtitel in den Raum und die Spieler haben eigentlich gar keine Zeit, die entsprechenden Noten aufzuschlagen. Zu hören ist ein Geräusch, als ob 100.000 Blätter durcheinanderwirbeln. Dann bellt er eine Taktzahl nach der anderen und zählt nur sehr knapp vor, was es fast unmöglich macht, im vorgezählten Tempo einzusteigen. Zwischendurch pickt er sich einzelne Spieler heraus, um diese vor versammelter Mannschaft bloßzustellen und zu demütigen. Jedes Instrument ist mehrfach besetzt und wer gerade die erste Geige spielen darf, hat weniger mit den spielerischen Qualitäten zu tun, sondern eher mit Willkür. Der Wortschatz des Leiters ist grundsätzlich unterhalb der Gürtellinie und ich wage zu bezweifeln, daß das der Realität an den amerikanischen Konservatorien entspricht. Bekannt ist allerdings, daß dort ein rauher Ton herrscht und den Schülern ungemein viel abverlangt wird. Als Idol erwähnt Fletcher den Jazzschlagzeuger und Bandleader Buddy Rich, diesem wird ein ähnlicher Führungsstil nachgesagt. Andrew ist vom Ehrgeiz zerfressen und um seinem Lehrer zu gefallen, trommelt er sich besessen mit zusammengebissenen Zähnen die Hände blutig. Als ich von den „blutigen Händen“ in Filmkritiken hörte, habe ich mich sofort gefragt, wie das überhaupt funktionieren kann. Die Sticks liegen locker zwischen den Fingern, bei Anfängern kann es allenfalls zu Schwielen oder einer Blase kommen. Sowohl der Fachmann als auch mein Percussionlehrer haben das als rein filmdramaturgisches Mittel abgetan. Mein Begleiter hat das Aufzeigen des Weges vermißt, wie Andrew sein Spiel nach und nach verbessert, bis er bei dem Abschlußsolo brilliert. Aber das wäre wohl nicht spektakulär genug gewesen! Sehr viel geübt haben muß auch der Schauspieler Miles Teller, der Darsteller des Andrew. Bis auf das grandiose finale Trommelsolo hat er sich nicht doubeln lassen und seine Sache wirklich gut gemacht. Jetzt komme ich zum Schluß und da war ein phänomenal gut und wahnwitzig schnell gespieltes Solo des Schlagzeugers Andrew. Zu sehen sind laut Erklärung meines Begleiters entpersonalisierte Hände. Wem auch immer diese Hände gehören, ein kaum endendes Solo in der Geschwindigkeit von 400 Beats per minute präzise zu spielen, ist eine außergewöhnliche Leistung!!! Die am häufigsten gespielten Titel sind „Caravan“ und natürlich „Whiplash“! J.K. Simmons erhielt einen Oscar als bester Nebendarsteller für die Rolle des Fletcher. Ich als Ohrenmensch hätte mir einen Oscar für die Filmmusik gewünscht.

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