Blog Blindgaengerin

Mai 2016

Auf einem Brett liegen in einer Reihe fünf kleine Gebäcke, in Berlin Pfannkuchen, außerhalb Berlins Berliner genannt. Alle tragen Perücken und haben Gesichter aus aufgeklebten Augen und roten Mündern. Die vier äußeren tragen auch Ohrstecker, die Mundwinkel zeigen nach oben. Der Berliner in der Mitte ist etwas zerdrückt mit langem strähnigem Haar, die Mundwinkel zeigen nach unten. Dahinter ein zerknülltes Blatt Papier mit dem Wort Mängelexemplar. Ein schwarzer Pfeil zeigt auf den Berliner in der Mitte.

Mängelexemplar

Das Buch ist ein kostbares Kulturgut und hat irgendwie auch eine Seele! Es möchte, genauso wie alle Dinge und Lebewesen, daß mit ihm respektvoll, sorgfältig und fachgerecht umgegangen wird. Leider ist es aber auch vor Schicksalsschlägen nicht gefeit. Fehler, die beim Drucken oder Binden auftreten, degradieren das Buch zum Defektexemplar. Die nächste Gefahr lauert beim Transport und der Lagerung. Zieht es sich dabei gut sichtbare und nicht zu korrigierende Beschädigungen zu, wird es als Mängelexemplar abgestempelt und unterliegt nicht mehr der Buchpreisbindung. Mit einer gewollt verknittert aussehenden Titelseite veröffentlichte die Autorin Sarah Kuttner aus Berlin 2009 ihren Roman „Mängelexemplar“. Ob sich der Buchdeckel auch so anfühlt, wie er aussieht, kann ich mangels eines Exemplars nicht beurteilen. Ganz genau wissen wird das die Berliner Regisseurin und Drehbuchautorin Laura Lackmann. Beim Lesen des Bestsellers hatte sie sofort einen Film vor Augen und im Jahr 2014 nahm ihr Kopfkino bei den Dreharbeiten Gestalt an. Wer das Mängelexemplar, die 27-jährige Berlinerin Karo, verkörpern sollte, kam ihr jedoch nicht sofort in den Sinn. Die Wahl fiel beim Casting dann recht schnell auf die gebürtige Berliner Schauspielerin Claudia Eisinger. Wie gut diese an sich und ganz besonders am gigantischen Lehrstoff eines Jurastudiums verzweifeln kann, bewies sie bereits als Studentin Katharina in „Wir sind die Neuen“. Im krassen Gegensatz zu dem verknitterten Buchdeckel kann man bei Karos äußerer Erscheinung absolut nichts Mängelexemplarisches feststellen. Dennoch wird die sehr attraktive junge Frau von ihrer Chefin kurz und schmerzlos wie ein ramponiertes Buch ausgemustert. Sie sei viel zu unbeherrscht und emotional. Und so, wie sich Karo dann in einem Baumarkt aufführt, ihren Freund überfordert und ihre beste Freundin Anna vor den Kopf stößt, scheint da was dran zu sein. Die Einzige, die ihr gar nichts übel nimmt, und zu der sie sich jederzeit Trost suchend flüchten kann, ist ihre Oma Bille. Den Part der Oma übernimmt Barbara Schöne aus Berlin mit ihrer wundervoll warmherzigen und tiefen Stimme. Und dann ist da noch Laura Tonke, natürlich auch aus Berlin. Hier steckt sie nicht als Hedi Schneider in einem Fahrstuhl fest, sondern heißt Anna, besitzt eine Kneipe in Kreuzberg und ist eigentlich Karos beste Freundin. Wenn sich fünf Frauen als geballte Berlinerinnen-Kompetenz daran machen, eine mal tragische, meist aber komische Berliner Geschichte auf die Leinwand zu bringen, kann ja eigentlich nüscht mehr schiefjehn und das isses auch nicht! Dazu maßgeblich beigetragen haben aber auch zwei Wahlberlinerinnen. Zum einen versucht Katja Riemann als Karos Mutter – und eigentlich selbst ein Mängelexemplar – mehr schlecht als recht, ihrer Tochter aus einer tiefen psychischen Krise herauszuhelfen. Professioneller geht es da schon in der Praxis von Maren Kroymann als Psychotherapeutin Annette zu. Mit stoischer Ruhe und minimalistischen Gesten läßt sie Karo ihr Leben Seite für Seite wie in einem Buch Revue passieren und daraus erzählen. Darin kommen natürlich auch Männer vor, Christoph Letkowski als Karos Freund, Detlev Buck ist ihr Vater und Maximilian Meyer-Bretschneider mal Kumpel und mal mehr. Das männliche Geschlecht kommt zwar nicht allzu oft zu Wort, ist aber dennoch unverzichtbar, wie im Leben eben. Unverzichtbar für den vollen Filmgenuß ist wie immer eine Audiodeskription. Die gibt es auch und ich bekam sie über die App Greta im Kino auf die Ohren. Dieser frauendominante Film schreit geradezu nach einer Sprecherin für die Hörfilmbeschreibung und das war auch der Fall. Was ich von der angenehm ruhigen und unaufgeregten Stimme zu hören bekam, war mir sehr vertraut, weil ich bei der Erstellung der Audiodeskription redaktionell mitwirken konnte. Genau gesagt, las mir der Autor den Text seines Manuskriptes zwischen die Dialoge. Wenn mir etwas unklar war, haben wir gemeinsam nach einer neuen Formulierung gesucht. Die Regisseurin mußte sich einiges einfallen lassen, um Karos diffuse Gedanken und Gemütsschwankungen, wie sie im Buch beschrieben sind, in Bild und Ton darzustellen. Das ist ihr auf beeindruckende Weise geglückt, auch mit Unterstützung durch die jeweils genau passende Filmmusik. Die vielen Bilder mußten dann für die Audiodeskription wieder in Worte gefaßt und in die kurzen Dialogpausen platziert werden. Und ganz subjektiv gesprochen, ich finde, das haben vor allem der Autor, ein Urberliner, und ein bißchen auch ich, jahrzehntelange Wahlberlinerin, ganz gut hinbekommen. Mein Honorar für diese Tätigkeit kommt übrigens zu 100 % der Kinoblindgänger gemeinnützige GmbH zugute!

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Auf einer Sandfläche steht ein brauner Holzstuhl. Rückenlehne und Sitzfläche sind mit Stoff bespannt, der in Rosatönen gemustert ist. Der Stuhl ist zerbrochen, die Beine nach außen geknickt, die Sitzfläche liegt mit einer Seite im Sand. Zu beiden Seiten des Stuhles stehen und liegen Wasserflaschen am Boden.

Ein Hologramm für den König…

…und für Arne Elsholtz! Wie Sie sehen, sehen Sie nichts. Aber wenn Sie mal schauen wollen, Sie sehen ja selbst! Das betrifft aber nicht den Kinobesucher, ganz im Gegenteil. Nur der vom Jetlag geplagte Amerikaner Alan Clay steht in der saudi-arabischen Wüste und staunt. Von dem, was er hoffte, dort vorzufinden, ist weit und breit nichts zu sehen und diese Erkenntnis erwischt ihn trotz glühender Hitze eiskalt. Nach einer knapp zweistündigen Autofahrt von der Stadt Djidda über eine menschenleere Wüstenstraße taucht plötzlich wie aus dem Nichts ein Straßenschild auf mit der verheißungsvollen Aufschrift: „King’s Metropolis of Economy and Trade“ Alans Fahrer Yousef lenkt nun seinen schicken Wagen auf die Zufahrtsstraße zu dem Firmengelände, auf der ein gelangweilter Kontrollposten sitzt und sich die Füße in einem Planschbecken kühlt. Nachdem dieser die beiden durchgewunken hat, setzen sie ihre Fahrt durch das Nichts fort. Der einzige Unterschied ist, daß jetzt der Sand von der Straße gefegt wird. Endlich taucht ein gewaltiger runder futuristischer Gebäudekomplex am Meer auf und einige Meter entfernt ein großes schwarzes Zelt. In diesem notdürftig eingerichteten Brutkasten ohne Klimaanlage, Telefon- und Internetverbindung ist zu Clays Entsetzen sein Team untergebracht. Schlechter könnten die Voraussetzungen nicht sein, dem saudischen König persönlich eine US-amerikanische Zukunftstechnologie, ein holographisches Telefonkonferenzsystem, zu präsentieren und zu verkaufen. Als er wütend hinüber in das futuristische Gebäude marschiert, um sich über diese Mißstände zu beschweren, hat er Mühe, überhaupt jemanden anzutreffen. Und der König hat sich auch seit mindestens 18 Monaten nicht mehr blicken lassen. Diese Kulisse am Roten Meer, die Alans Hoffnungen auf einen für ihn überlebenswichtigen erfolgreichen Geschäftsabschluß sehr dämpft, ist nicht frei erfunden, sondern Realität in der Region zwischen den heiligen Städten Mekka und Medina. Dort legte der saudische König Abdullah ibn Abd al-Aziz im Dezember 2005 den Grundstein für das gigantische Projekt „King Abdullah Economic City“, kurz KAEC genannt. Knapp zwei Autostunden entfernt von der wichtigsten saudi-arabischen Hafenstadt Djidda sollte in wenigen Jahren für 22 Milliarden Euro eine Mega-Stadt, eine strahlende Wirtschaftsmetropole nach dem Vorbild Dubais, mit über 2 Millionen Bewohnern aus dem Boden gestampft werden. Realisiert wurden in den darauffolgenden acht Jahren allerdings nur einige verwaiste Bürogebäude und riesige leerstehende Apartmentkomplexe. Der Rest des ehrgeizigen Projektes ist noch auf dem Reißbrett. Vielleicht aus diesem Grund wurde der Drehbuchautor und Regisseur Tom Tykwer jedenfalls für die Dreharbeiten der Spielfilmszenen von den Saudis aus ihrer Wüste verjagt. Eine geeignete Ersatzwüste fand er dafür in Marokko. Erlaubt wurden ihm aber die Aufnahmen vom architektonisch hochinteressanten Stadtbild Djiddas. Die Bilder aus Mekka stammen von muslimischen Kameraleuten, weil Nichtmuslimen das Betreten der heiligen Stadt verboten ist. Kein Ersatz, sondern Wunschkandidat für die Rolle des Alan Clay, des 54-jährigen Geschäftsmannes und Pechvogels aus Boston, ist Tom Hanks. Der Schauspieler schätzt sich, wie er in einem Interview sagte, glücklich, nur im Film jemanden zu verkörpern, dem in jeder Hinsicht der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Aber auch der Neustart in Saudi-Arabien steht unter keinem guten Stern. Sogar diverse Sitzgelegenheiten haben sich gegen ihn verschworen und brechen bei den unpassendsten Gelegenheiten unter ihm zusammen. Und täglich grüßt nicht das Murmeltier, sondern neben einem zerbrochenen Stuhl sein Fahrer Yousef, weil Alan wieder einmal verkatert den Zubringerservice vom Hotel in den Brutkasten verschlafen hat. In dem Land der allgegenwärtigen Wasserflaschen gelingt es ihm doch immer wieder, an alkoholische Getränke zu kommen. Ähnlich wie Bill Murray kämpft auch Tom Hanks mit dem Phänomen einer Art Zeitschleife, nur mit viel mehr Tempo. Wie auf einem Laufband in einem Fitnessstudio hetzt er immer wieder durch den Tag, ohne seinem Ziel auch nur einen Schritt näher zu kommen. Welches war das noch gleich? Aber zu Alans Glück ist die saudi-arabische Ärztin Zahra kein Hologramm, also keine technisch hochkompliziert erstellte photographische Aufnahme, die ein echtes dreidimensionales Abbild des Ursprungsgegenstandes wiedergibt. Sie ist aus Fleisch und Blut und dazu auch noch wunderschön. Auch der Fahrer Yousef (Alexander Black) ist mit Haut und Haar und für den gestreßten Amerikaner ein Glücksfall. Von dem witzigen, charmanten und oft sprunghaften und widersprüchlichen jungen Mann lernt Alan viel über Land und Leute. Für die Beschreibung der Bilderflut lassen die Filmfiguren, besonders der mitteilungsbedürftige Yousef, nicht viel Zeit. Aber die Zeit, die blieb, wurde optimal genutzt und ich hätte keine der Informationen missen mögen. Nur als Alan und die Schöne vor den indiskreten Blicken der Nachbarn im wahrsten Sinne des Wortes einmal abtauchen und für eine gefühlte Ewigkeit die Luft anhalten müssen, konnten sich die Hörfilmbeschreiber einmal richtig austoben. Tom Hanks darf sich damit rühmen, daß ihm gleich zwei der besten deutschen Synchronsprecher und beide aus Berlin ihre Stimme leihen bzw. liehen. Arne Elsholtz, der unter anderem auch Bill Murray synchronisierte, ist leider vor zwei Wochen gestorben. Jetzt wird Joachim Tennstedt, der im Film „Ein Hologramm für den König“ zu hören ist, den Job wohl alleine übernehmen.

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