Blog Blindgaengerin

August 2016

Auf einer Wiese unter blauem Himmel steht eine etwa einen Meter hohe Wand aus grauen Platten, obenauf liegt eine graue Röhre. An der Wand ein Schild: Achtung, Sie verlassen jetzt West-Berlin. Hinter der Mauer ist die bayerische Flagge gehißt und ein künstlicher Schweinskopf schaut über den Rand. Vor der Mauer steht die Blindgängerin. Sie trägt ein blauweißkariertes Shirt und eine kurze Trachtenlederhose. Mit einer vollen Maß Bier prostet sie in Richtung Kamera.

Schweinskopf al dente

„Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten…“ …quäkte Walter Ulbricht am 15. Juni 1961 bei einer Pressekonferenz in Ostberlin mit seiner kehligen und monoton emotionslosen Stimme. Von dieser Stunde an hing das Wörtchen „Mauer“ in der Luft und schon zwei Monate später zog sich die „Niemandsabsicht“ erschreckend real quer durch Berlin. 55 Jahre später, am 13. August 2016, war das Einzige, was während meiner knapp siebenstündigen Zugfahrt von München nach Berlin kontrolliert wurde, die Fahrkarte. Der Eberhofer Franz würde die Abschaffung der innerdeutschen Grenze vor 27 Jahren vielleicht mit einem „das ist schön“ oder „wunderboar“ kommentieren. Er ist die zentrale Filmfigur im „Schweinskopf al dente“ und sorgt als Dorfpolizist in dem bayerischen Fantasiedorf Niederkaltenkirchen für Ruhe und Ordnung. Als ob speziell für diesen Schweinskopf über Nacht zum Kinostart am 11. August 2016 eine Mauer nach Berliner Vorbild errichtet worden wäre, kann er aber die bayerische Landesgrenze nicht wie jedes andere Schwein einfach so passieren. Er darf sich nur in bayerischen Kinos aufhalten, immerhin 130 an der Zahl. Dazu hätte der Eberhofer, der nie mit seiner Meinung hinterm Berg hält, möglicherweise ein „Schweinerei“ oder „Sauerei“ gebrummelt. Dem „Winterkartoffelknödel“ und dem „Dampfnudelblues“, den beiden vegetarischen Vorgängern des Schweinskopfes, ging es diesbezüglich nicht besser. Einer der Gründe dafür könnte sein, daß in den drei urig bayerischen Kriminalkomödien natürlich die bayerische Mundart par excellence im Original und ohne hochdeutsche Untertitel gepflegt wird. Ausgedacht hat sich die mittlerweile sieben in sich abgeschlossenen Kriminalgeschichten rund um das 1000 Seelen zählende Niederkaltenkirchen die Münchnerin Rita Falk. Bis auf den Schweinskopf haben alle Titel mit typisch bayerischen Gerichten zu tun. Die Frau war wohl auch beim Schreiben entweder sehr oft hungrig oder wollte ihren Lesern einfach nur so den Mund wässrig machen. Beim Hören der ersten drei Romane hätte ich mich am liebsten zur obercoolen Oma vom Franz mit an den Tisch gesetzt. Da gab es Knödel, Schweinsbraten mit Soße, Haxen, lauwarmen Kartoffelsalat und Früchtequark und Apfelstrudel und so weiter. Einen Durscht muß die Autorin ebenso gehabt haben. Zum Feierabend trifft man sich in der Dorfkneipe vom Wölfi mit reichlich Bier zu vielen Prosits auf die Gemütlichkeit. Dem dorfansässigen Ein-Mann-Sanitärbetrieb hat sie gleich den Namen der in Rosenheim ansässigen Flötzinger Privatbrauerei verpaßt, die schon im Jahr 1543 gegründet wurde. Deshalb genehmigten auch wir uns zur Stärkung vor dem „Schweinskopf al dente“ auf der Leinwand ein allerdings anderes Teil vom Schwein ganz real auf dem Teller, dazu ein zünftiges Weißbier. Dann ging es zum Cadillac Veranda Kino am Münchner Rosenkavalierplatz. Im diesem Kino sitzt man nicht nur einfach in einem Kinosaal, sondern wie in einem überdimensionierten Cadillac. Kurz bevor die Vorstellung Fahrt aufnimmt, blickt man noch einmal prüfend in den gigantischen Rückspiegel. Dann erst wird dieser hochgefahren, um die Sicht auf die Leinwand freizugeben. Für mich war es dann an der Zeit, die über die App Greta auf meinem Smartphone mitgebrachte Audiodeskription zu starten. Neben unzähligen visuellen Schmankerln beschrieb der Sprecher mit seiner sehr angenehmen Stimme, aus der das Bayerische gerade noch so herauszuhören war, die teilweise schon recht skurrilen Bewohner Niederkaltenkirchens. Falls sie nicht zwischendurch versterben, tauchen sie in zumindest den ersten drei Krimis immer wieder auf und genau davon leben diese Geschichten. Es kommen aber auch immer wieder Fremdlinge dazu, wie z. B. Mörder, Leichen oder wie hier der Schweinskopf, der gezielt als angsteinflößendes Objekt herhalten muß und diese Aufgabe auch einwandfrei erfüllt. Bei allen drei bis jetzt in den Kinos gelaufenen Filmen hatte ich den Eindruck, als ob die von Rita Falk erdachten Figuren einfach so aus den Büchern auf die Leinwand gesprungen wären. Aber das Herüberbringen der Stimmung in der bayerischen Provinz, so wie man sie sich vorstellt, und die Handlung mit ihrer Situationskomik ist dem Schweinskopf mit Abstand am besten gelungen! Der Franz Eberhofer ist der Einzige, der es mit allen anderen Figuren zu tun bekommt, und zwar ob er will oder nicht. Er ist Sohn, Enkel, Bruder, Schwager und Onkel, locker verbandelt mit der Susi, Kunde beim Metzger Simmerl, dem „Heizungs-Pfuscher“ Flötzinger und Stammgast beim Wirt Wölfi. Der Rest ergibt sich aus seiner Funktion als Dorfpolizist. Das alles scheint der Schauspieler Sebastian Bezzel auch dank des sauguten Zusammenspiels mit all den anderen charismatischen Darstellern genauso leicht zu stemmen wie einen Maßkrug. Nach einer ganz kurzen Gewöhnungsphase konnte ich den bayerischen Wortgefechten problemlos folgen, das mit dem Maßkrug war da schon viel schwerer! Und wer weiß, vielleicht schafft der Schweinskopf ja noch mit letzter Kraft den Hopser über die Mauer und beglückt Kinobesucher auch über die bayerische Grenze hinaus. Schaun mer mal!

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Toni Erdmann

Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muß sich der Berg eben zum Propheten bewegen. Der Prophet ist in diesem Fall eine Prophetin und heißt Ines Konradi. Die junge Frau, Mitte 30, lebt zurzeit in Bukarest, wo sie sehr erfolgreich als Unternehmensberaterin arbeitet. Der Berg, der sich vernachlässigt fühlt, ist ihr Vater Winfried Konradi, ein gerade pensionierter Musiklehrer mit viel Zeit. Also beschließt er, seine gestreßte Tochter zu ihrem Geburtstag mit einem Überraschungsbesuch zu beglücken. Der Papa hatte bei mir sofort einen „Stein im Brett“. Als er seinen altersschwachen Hund Willi partout nicht überreden kann, sich ins Haus zu bewegen, verbringt Winfried die Nacht gemeinsam mit dem Tier im Garten auf der Erde schlafend. Am nächsten Morgen liegt Willi tot unter einem Baum. Er hat sich und seinem Herrchen den schrecklichen letzten Weg zum Tierarzt erspart. Oft steht die Freude des Überraschers im umgekehrten Verhältnis zu der des Überraschten. So ist Ines, was die Reine, Heilige, Geweihte und Keusche bedeutet, nur wenig über das plötzliche Auftauchen ihres Vaters in Bukarest begeistert, wo er sich in ihr Privatleben und berufliches Umfeld einmischt. Zudem hat die Prophetin nach wie vor keine Zeit. Ihr Job besteht aber nicht darin, göttliche Botschaften zu verkünden. Sie versucht gerade, ihrem wichtigsten Kunden das von ihr ausschließlich unter irdischen Gewinnoptimierungsaspekten entwickelte Konzept als das Profitabelste zu verkaufen. Nach einigen Tagen scheint der Berg zu kapitulieren und den Rückzug anzutreten. Aber Winfried, der Friedensuchende, bleibt und schlüpft in die Identität des Toni Erdmann. Wahrscheinlich bin ich die Einzige, die mit Ion Tiriac, dessen Coach und Tennisfreund Toni Erdmann zu sein vorgibt, nichts anfangen konnte. Falls es noch jemandem so geht: Er ist inzwischen der reichste Mann Rumäniens und war einst ein sehr erfolgreicher Tennisspieler und Manager u.a. von Boris Becker. Mit der Figur Toni Erdmann kommt allmählich etwas Schwung in die festgefahrene Vater-/ Tochterbeziehung. Im vollbesetzten Kinosaal gab es Szenenapplaus für eine fast fünfminütige musikalische Einlage. Toni Erdmann am Keyboard und Ines, die er als die fabelhafte Sängerin Whitney Schnuck vorstellt, geben „The Greatest Love of All“ zum Besten. Nach einigen Takten beginnt Ines etwas unsicher zu singen, faßt dann immer mehr Vertrauen zu ihrer Stimme und wagt sich selbstvergessen und mit Inbrunst in die höchsten Tonlagen. Hinter Whitney Houston, die 1986 mit ihrer Coverversion dieses Songs einen Nummer-eins-Hit landete, braucht sie sich keinesfalls zu verstecken. Kaum ist der letzte Ton verklungen, erwacht sie wie aus einem Tagtraum und stürmt in ihr als reine Schlafstätte genutztes Appartement. Nachdem dort ein Cateringservice das Buffet für ihre Geburtstagsfeier aufgebaut und das Wohnzimmer mit etwas Deko wohnlicher gestaltet hat, ist es höchste Zeit, sich in das passende Party-Outfit zu stürzen. Das erweist sich als ein sehr verzwicktes und verwurschteltes Unterfangen und endet mit einem für ihre Gäste verblüffend minimalistischen Ergebnis. Minimalistisch war auch meine Hoffnung, die Hörfilmbeschreibung für Toni Erdmann in meinem Lieblingskino unkompliziert in mein Ohr geflüstert zu bekommen. Zwei Tage vorm Kinostart schien es noch gewiß, daß ich mir meine eigenen Bilder zum Film zurechtbasteln müßte. Im Nachhinein kann ich sagen, das wäre mächtig in die Hose gegangen. Ohne die Beschreibung der unzähligen visuellen Details, bei denen sich die Drehbuchautorin und Regisseurin Maren Ade natürlich etwas gedacht hat, hätte der Film in meinem Kopf mit dem auf der Leinwand wenig Ähnlichkeit gehabt. Problematisch wären auch die rumänischen nur mit Untertiteln versehenen Dialoge gewesen. Die sonst hilfreichen Geräusche hätten nicht einmal zum richtigen Rückschluß bei der einzigen und einzigartigen Sexszene geführt. Wie auch, wenn sich der weibliche Part mit ausreichendem Sicherheitsabstand und ohne einen Mucks von sich zu geben, die Sache mehr oder weniger genüßlich auf der Zunge zergehen läßt. Aber zu meiner sehr großen Freude hieß es dann doch noch: Daumen hoch für die App Greta und Starks! Dafür möchte ich mich hier herzlichst bei allen an diesem Entscheidungsprozeß Beteiligten bedanken! So konnte ich genauso oft lachen wie die anderen Zuschauer im Saal, wenn auch meist einen klitzekleinen Tick später. Schließlich mußte ich ja noch kurz der Audiodeskription lauschen. Ich hätte dem Berg (Peter Simonischek) und der Prophetin (Sandra Hüller) wie auch den anderen Filmfiguren noch viel länger zuschauen können, wie sie gemeinsam Maren Ades kritische Beobachtungen meist urkomisch, aber auch mit dem nötigen Ernst auf die Leinwand zauberten. Aber nach 162 Minuten hieß es dann doch: „Das Bild wird schwarz“!

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