Blog Blindgaengerin

April 2020

Die Blindgängerin vor einem Bügelbrett, das vor den Spiegeltüren eines Kleiderschrankes steht. Sie trägt eine olivfarbene Bluse zu hellen Jeans. Auf dem Bügelbrett diverse Kleidungsstücke in vielen Farben.

Spieglein, Spieglein an der Wand…

…wer ist die Schönste im ganzen Land? Wie im Märchen ist es auch hier nicht die da, die da gerade vorm Spiegel steht! Die da kann sich auch freitags nicht in einer reflektierenden Oberfläche sehen und weil ihr persönlicher Modeberater gerade nicht kann, hat sie eine viel wichtigere Frage, nämlich: Kann ich so auch ohne dicken Pulli an – hoffentlich bald wieder – unter die Leute? Aber das Spieglein bleibt stumm. Also ein Fall für die Kategorie „Verflixt noch mal“! Dabei trübt nach meiner liebevollen Reinigung nicht eine Schliere und kein Wassertröpfchen dem zweiteiligen Wandspiegel die Sicht. Vielleicht schmollt er mit mir, weil ich ihm mit dem Bügelbrett den Blick versperre, auf dem sich Wäscheberge türmen oder sich die Katze fläzt. „Kombiniere …“ mal wieder was Neues, dachte ich mir, und jetzt muß ich unbedingt wissen, haut das farblich und vom Stil her so hin? Hatte die rote Bluse nicht doch ein kleines Muster, das sich nicht mit der Jacke vertragen könnte, und paßt die graue Jeans wirklich? Weil meine Experimente mit Kombinationen schon viel zu oft in die Hose gingen, gehe ich auch dieses Mal kein Risiko ein. Ich brauche einen Kontrollblick, und zwar von einer Vertrauensperson! Damit fällt der Blick via „Be My Eye“ leider aus. Hinter der so genannten App steckt die sehr schöne Idee, daß Blinde sich unkompliziert das Auge eines Sehenden kurzfristig ausleihen können. Wäre diese App auf meinem Smartphone und ich als blind angemeldet, könnte ich mich jetzt per Videochat mit irgendeinem als sehend Registrierten verbinden. Ich müßte mit der Handykamera an mir entlangfahren, damit sich die Person ein Bild von meinem Outfit machen könnte. Aber ich müßte mich auf den Geschmack eines Wildfremden verlassen und ob das mit der genauen Übermittlung der farblichen Feinheiten technisch so klappt, wage ich auch zu bezweifeln. Also Plan B, raus aus den Klamotten und rein in eine bereits bewährte Kombination! Aber war da nicht was mit Spritzern vom Balsamico-Dressing auf dem weißen Oberteil? Und sind diese beim Waschen wirklich rausgegangen? Und wo ist verflixt und zugenäht die dunkelblaue Jeans? Bevor mir der Kragen platzt und mir die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt, durchforste ich meinen Schrank nach der nigelnagelneuen olivfarbenen Bluse. Die ist bestimmt unbefleckt. Dazu paßt, das weiß ich, eine helle Jeans. Jetzt noch meinen Bernsteinschmuck angelegt, in die schwarzen Sneakers geschlüpft, die schwarze Lederjacke drüber und fertig! Dieses Ergebnis hätte ich auch gleich haben können, ohne meinen Kleiderschrank zu verwüsten. Am perfekten System, meine Sachen so zu sortieren, daß ich das gewünschte Teil auf Anhieb finde, arbeite ich noch. Bewährt hat sich, rotfarbene Blusen und Shirts immer linksherum in den Schrank zu legen beziehungsweise zu hängen. Aber auch Rot ist nicht gleich Rot, es gibt auf jeden Fall mehr verschiedene Rottöne, als eine Bluse Seiten hat. Dank der Aktion stapeln sich wieder einmal diverse Klamotten auf dem Bügelbrett. Das hat sich das Spieglein selbst eingebrockt! Jetzt muß ich noch schnell prüfen, ob die Frisur sitzt. Darauf lege ich großen Wert. Dazu fahre ich mir mit den Fingern durchs Haar und verlasse mich ganz auf mein Fingerspitzengefühl. Diese Technik hätte nach dem Auftragen von Make-up, Lidschatten und so weiter bestimmt fatale Folgen. Unabhängig davon hatte ich mit der Schminkerei auch zu Zeiten, als ich mich mit meinem winzigen Sehrest im Spiegel sehen konnte, noch nie was am Hut. Bei einer Veranstaltung gab mir eine junge Frau beim Verabschieden auf den Weg: Sei froh, daß du dich im Spiegel nicht sehen kannst, dann bleibt dir der Anblick der Falten erspart. Sie meinte das wohl aufmunternd. Aber ich sage nur Fingerspitzengefühl! Falten lassen sich auch ertasten. Eigentlich komme ich auch ohne Spieglein ganz gut zurecht. Ich darf mich einmal selbst zitieren: „Ich orientiere mich an den Nähten und am Etikett, wo rechts und links ist.“ „Strukturen finde ich manchmal ganz fetzig, sie sorgen dafür, daß man sich das Teil gut vorstellen kann.” Diese Zitate stammen aus einem Interview für das Projekt Wechselwirkung, das dabei ist, eine Kollektion zu schaffen, die den Umgang mit Mode und Bekleidung für Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung vereinfacht und gleichzeitig interessant für Sehende ist. Auf Facebook und Instagram ist das Projekt Wechselwirkung schon präsent. Und Genaueres dazu gibt es demnächst auch hier im Blog.

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Die Blindgängerin sitzt auf einem rot gestreiften Sofa. Sie trägt Kopfhörer und hält ein Weinglas in der Hand. Auf dem Schoß ein aufgeklappter Laptop. Vor ihr auf dem Tisch stehen zwei Lautsprecherboxen, dazwischen liegt ein Smartphone mit der geöffneten Greta-App.

Doppelt gehört

Zur Zeit bin ich notgedrungen eher eine Blindsitzerin! Tue ich das abends gemütlich auf dem Sofa vorm Fernseher, werde ich meistens in dem ganz schön bunten Programm der öffentlich-rechtlichen fündig. Also ohne zu streamen, ganz klassisch linear bis jetzt. Viel lieber würde ich mich wieder als Blindgängerin ins Kino bewegen, wo ich Filme am liebsten genieße, aber jammern is nich! Also blicke ich auch aus aktuellem Anlaß zurück auf mein zwiespältigstes Kinoerlebnis im letzten Jahr mit „Systemsprenger“! Der Film von Nora Fingscheidt steht auf meiner persönlichen Liste „Bester Kinofilm 2019“ ganz vorne! Ich hatte mich so gefreut, die Hörfilmfassung über die Greta App genießen zu können. Aber, und jetzt kommt der Wermutstropfen, diese ist nach allen Regeln der Kunst schlecht gemacht! Das wollte ich nicht für mich behalten und stieß besonders beim Verleih auf offene und interessierte Ohren. Besonders irritierte mich damals der Sprecher der Audiodeskription. Für mich hörte sich das so an, als ob sich der Mann am Mikrophon nicht wohl in seiner Haut fühlte. Der Text wurde monoton vorgetragen und die Stimme klang angespannt und manchmal hektisch. Das Sprechtempo war, auch wenn es nicht nötig war, viel zu schnell. Und ich konnte mehrmals unkontrollierte Atmer hören. Das spricht nicht gerade für einen professionellen Sprecher, der seine Stimme kontrolliert einsetzt. Aber der beim Deutschen Filmpreis zehnfach nominierte „Systemsprenger“ hat Glück! Seit Ende März ist der Film bei Netflix mit einer eigens produzierten Audiodeskription im Angebot. Ein triftiger Grund, mich zu vernetflixen! Schon nach den ersten Sätzen ist klar, hier war ein ausgebildeter Sprecher am Werk, der seine Stimme beherrscht wie ein Profimusiker sein Instrument, und damit gekonnt spielt. Mit Vergnügen habe ich der angenehm warmen und ruhigen Stimme zugehört. Dynamik und Dramatik sind fein dosiert und der Text wird in ruhigem und angemessenem Tempo vorgetragen. Muß es einmal schneller gehen, klingt die Stimme nie gehetzt oder aufgeregt. Im Gegensatz zur Kinofassung empfand ich den Sprecher nicht als Fremden, sondern als meinen Begleiter! Genauso wichtig wie das „wie“ ist das „was“ ich zu hören bekam. Und auch da unterscheiden sich die beiden Fassungen himmelhoch! Um auch ohne vorliegende Skripte vergleichen zu können, führte ich mir die Kinofassung über die Greta App noch einmal zu Gemüte, also nur den Film streamen und die App starten. Das hat super funktioniert! Ich weiß, daß anders als bei der Kinofassung das Skript für Netflix von einem geschulten Hörfilmbeschreiber-Team geschrieben wurde. Hier sind nur einige Beispiele, wie sich das bemerkbar macht: Gleich zu Beginn wird in der Kino-AD ein Mann als „ein Erzieher“ eingeführt, dabei erschließt sich dies erst einige Minuten später. Bei der Netflix-AD wird beschrieben, was zu sehen ist, nämlich ein Graubärtiger, und so ist es richtig! Als Benni, die 9-jährige Systemsprengerin, an eine mehrspurige stark befahrene Straße rennt, wird in beiden ADs gesagt, sie versucht, mit erhobenem Daumen ein Auto anzuhalten. Der Sprecher der Kino-AD sagt: Kein Auto hält an, Benni wird immer wütender. Zu beschreiben, was nicht passiert, ist besonders hier überflüssig, zumal die vorbeirasenden Autos zu hören sind. Und „wird immer wütender“ ist keine Beschreibung, sondern eine Feststellung. Bennis Wut ist übrigens auch nicht zu überhören. Bei Netflix wird beschrieben, wie sich Bennis Wut äußert, zum Beispiel beschmeißt sie eines der vorbeifahrenden Autos mit einer Büchse. Die Aussage „Benni untersucht die Hütte“ läßt bei mir kein Bild entstehen. Bei Netflix wird beschrieben, was Benni tut: Sie nimmt ein Holzscheit und läßt es wieder fallen, hebt den Deckel eines Teekessels an und legt ihre Klappmatratze auf ein Bett. So entstehen Bilder und man bekommt einen ersten Eindruck, wie es in der Hütte aussieht. Bei der Netflix-AD wird in wohlformulierten Sätzen und in einer lebendigen Sprache detailliert vermittelt, wer was, wie, wo und wann tut. Bei der Kinofassung hört sich das mitunter an wie folgt: Chaos in Bennis Kopf Eindrücke rauschen am Seitenfenster vorbei Das Bild bewegt sich wie der Blick eines Hinterherlaufenden Frau Bafané, die Ärztin von vorhin kommt Die Frau sieht gut aus, eine mütterliche Frau, mütterlicher Typ Subjektive Wertung statt Beschreibung, geht gar nicht! Als Schlagworte mit bedeutungsschwangerer Stimme eingeworfen: Grauer trüber Himmel, Waschbecken, Dunkelheit, Klassenraum Statt die Mimik zu beschreiben: Michas ärgerlicher Gesichtsausdruck Und der Hinweis, daß Bennis Hose farblich nicht zu ihrem Shirt paßt, ist auch völlig daneben! Nur ein sehr wichtiges Detail ist mir in Erinnerung, das bei der Netflix-Fassung nicht genannt wird: Nämlich daß sich Benni das Messer dann auch an die Kehle hält. Zu guter Letzt habe ich mir beide Audiodeskriptionen gleichzeitig gegeben! Den Film mit der Netflix-AD hörte ich über die Boxen am Rechner und die Kino-AD zugeschaltet über die Greta App per Kopfhörer. Auch das hat super geklappt. Hilfreich wäre allerdings ein drittes Ohr gewesen. Aber die Mühe hat sich gelohnt, denn mein Verdacht hat sich bestätigt, daß die Kino-AD meistens nicht handlungssynchron war. Während der Sprecher der Kinofassung meistens schon längst mit seinem Text fertig war und eine gefühlt viel zu lange Pause entstand, bekam ich von dem anderen Sprecher über die Dialogpause verteilt passend zu den Geräuschen eine viel detailliertere Beschreibung. Das nennt man perfektes Timing! Dazu zum Schluß auch noch ein Beispiel: Benni bezieht wieder einmal ein Zimmer in einer weiteren Sozialeinrichtung und packt ihre Habseligkeiten, darunter ein Foto, in ein Regal. Die Zeit, das zu beschreiben, ist knapp. Bei Netflix wird die Zeit vor allem genutzt, um zu beschreiben, wer auf dem Familienfoto zu sehen ist. In der Kinofassung wird das Foto nur kurz erwähnt und gesagt, daß Benni Fotoalben auspackt. Als kurz danach der Schulbegleiter in Bennis Zimmer sagt „ganz schön viele Fotoalben“, antwortet Benni „ja, überall wo ich rausgeflogen bin, hab ich eins bekommen“. Jetzt heißt es bei der Netflix-Fassung „im Regal stehen zehn Fotoalben“. Hier war diese Info genau richtig plaziert. Bei der Kinofassung herrschte in diesem Moment Schweigen. Jetzt brauche ich eine Pause, schwinge mich auf mein Spinning-Rad und hole mir meine tägliche Dosis Bewegung ab. Ich verabschiede mich mit dem hoffnungsvollen Zitat der Facebook-Seite „Das Kino“: „Nach dem Kino ist vor dem Kino. Läuft bei uns bald wieder!“

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