Blog Blindgaengerin

April 2015

In einem verwilderten Garten steht die Blindgängerin im Sonnenlicht. Sie trägt einen hellen Cowboyhut, Lederjacke, beigefarbene Jeans und Cowboystiefel. Auf der Schulter hält sie eine Gitarre. Einen Fuß stellt sie auf den Deckel eines Katzenklos. Im Vordergrund ein paar helle Steine, auf denen eine schwarze Stoffkatze sitzt.

Mülheim Texas – Helge Schneider hier und dort

Guten Tach, Helge Schneider! Und um Haaresbreite hätten wir uns ziemlich schnell wieder von ihm verabschieden müssen. Helge sitzt auf einem schwarzen Sessel und klimpert auf einer uralten elektrischen Orgel. Das Scheinwerferlicht richtet sich nur auf Helge, der Rest des Raumes bleibt im Dunkeln. Andrea Roggon, die Regisseurin im Off, fragt Helge nach seinen Gedanken zu dem großen Begriff „Freiheit“, die einem ja nicht einfach so gegeben wird. Ohne lange zu überlegen, meint er: „Nein, die muß man sich nehmen. Und das mach‘ ich jetzt.“ Steht auf und verläßt einfach die Szene. Aber keine Angst, er kommt sofort und für die nächsten ca. 100 Filmminuten wieder zurück. Was in diesen Minuten passiert, kann ich nur versuchsweise wiedergeben, weil im eigentlichen Sinne des Wortes „passieren“ nichts passiert. Mit dem Film versucht Andrea Roggon, Helge Schneider zu portraitieren, und hat ihn dafür über einen Zeitraum von vier Jahren interviewt und in allen möglichen und unmöglichen Lebenslagen gefilmt. Der Versuch des Portraits ist ihr gelungen, rausgekommen ist Helge Schneider! Ich habe ihm gerne zugehört, wenn er ruhig mit seiner angenehmen Stimme und dabei immer auf einem Musikinstrument improvisierend in die Kamera plauderte, konnte mir nur leider keine seiner Lebensweisheiten merken. Ich mag auch gar nicht spekulieren, ob er selbst das konnte… Ausgetobt hat er sich hinsichtlich seiner Verkleidungsmacke und beim Dekorieren seiner Szenenbilder draußen wie drinnen, durch die er Grimassen schneidend mit den schrägsten Verrenkungen tänzelt. Einmal dürfen wir ihn bei einem Spaziergang auf Feldwegen mit seinen beiden Hunden begleiten. Der Spitz und der Dackel verschwinden auf Handzeichen ins Gebüsch oder machen das, was Helge so einfällt. Daß er die beiden einmal an die Leine nimmt, kann man sich nur schwer vorstellen. Auf der Ruhr paddelt er durch die herunterhängenden Zweige der Weiden. Er duckt sich nicht, er schiebt die Zweige nicht beiseite. Er läßt die Blätter über sein Gesicht streifen, will die Natur hautnah erleben. Über sein Privatleben erfährt man erwartungsgemäß nix. Nur einmal, als er von seiner Begegnung mit Pferden erzählt und wie er mit den Tieren umging, kommt er auf seine Kinder zu sprechen. Er habe bei den Pferden wie bei seinen Kindern so wenig wie möglich regulierend eingegriffen, oder so ähnlich? Zwischendurch gibt’s immer wieder was für die Ohren! Der begnadete Musiker Helge setzt sich an eine Orgel, ein Klavier oder greift sich eines der anderen Instrumente, die er mit einer bewundernswerten und zu beneidenden Leichtigkeit spielt. Auch an Konzertmitschnitten wird nicht gespart. Für einige Minuten gestattet er uns Einblicke in die harte Probenarbeit mit seinen immer hervorragenden Musikern. Das bei den Konzerten spontan wirkende Hin und Her zwischen Helge und seiner Band ist haargenau festgelegt und muß exakt nach seinen Vorstellungen ablaufen. Der krönende Abschluß war das bei seinen Fans zu den Favoriten gehörende spanische Gedöns. Wenn Helge den Flamenco-Gitarristen und -Sänger gibt, bis die Finger endgültig zwischen den Saiten festhängen, bleibt kein Auge trocken! Wer Helge mag, mag auch den Film! Vor 12 Jahren war ich das erste Mal zunächst sehr widerwillig auf einem Helge-Konzert, schließlich kannte ich wie die meisten auch nur das „Katzeklo“. Ich hatte dann aber soooo viel Spaß, daß ich seitdem versuche, keinen seiner Berliner Auftritte zu verpassen. Daß ich einmal selbst als Helge-Imitat auf der Wiese stehen würde, hätte ich mir damals nie träumen lassen, aber so kann’s kommen! Bis jetzt kannte ich Helge „nur“ über meine Ohren. Dieses Mal hatte Greta einmal wieder Ausgang und jetzt kann ich mir eine Vorstellung über Helges Erscheinung im weitesten Sinne und seine Bewegungsabläufe machen. Dieser Kinobesuch war auch deshalb ein ganz besonderer, weil wir eine wenn auch kleine Gruppe Kinoblindgänger waren, um genau zu sein: Mit mir drei. Und dann haben wir noch einen weiteren Besucher mit dem weißen Stock entdeckt. Das macht Hoffnung!!! Über die Ausführlichkeit der Hörfilmbeschreibung gingen die Meinungen etwas auseinander. Die anderen beiden hätten sich eine detailliertere Beschreibung gewünscht, wofür auch Zeit gewesen wäre. Das mag für die eine oder andere Stelle zutreffen. Grundsätzlich gebe ich einer auf das Wesentliche beschränkten Hörfilmbeschreibung den Vorzug. Ich höre sehr gerne zwischendurch einfach nur die Geräusche von der Leinwand und träume so vor mich hin. Aber da sind die Geschmäcker eben verschieden. Toll ist, daß dieses Kinoerlebnis so überhaupt möglich geworden ist!!!

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Eine Regalwand aus hellem Holz. Auf dem Unterschrank steht eine Musikanlage mit Plattenspieler. Die Blindgängerin kniet davor und hebt den Tonarm an. Auf dem Plattenteller liegt statt einer LP eine große runde Uhr.

Nur eine Stunde Ruhe!

Nur eine Stunde Ruhe versucht der Zahnarzt und Jazzmusikliebhaber Michel während der 75 Filmminuten, einem ganz gewöhnlichen Samstag abzutrotzen. Er möchte sich einfach nur die frisch erworbene Schallplatte von Niel Youart, seiner Meinung nach dem Jazzklarinettisten schlechthin, aus den 50er Jahren zu Gemüte führen. Gerade hat er bei einem Bummel über einen Pariser Flohmarkt genau diese ihm in seiner immensen Sammlung noch fehlende Schallplatte entdeckt, hat mit seinen Begeisterungsausbrüchen noch den Preis in die Höhe getrieben, und denkt dennoch, ein Schnäppchen gemacht zu haben. Bestens gelaunt muß er bereits auf dem Heimweg zwei Telefonanrufe seiner Mutter abwehren, einen Patienten mit Zahnschmerzen vertrösten und seine Geliebte, die ihn dringlichst zu einem Treffen zitiert, abwimmeln. In der weiträumigen und nobel eingerichteten Wohnung angekommen, liegt die schwarze Scheibe endlich auf dem Plattenteller eines Plattenspielers im Wert eines Kleinwagens! Die Nadel schwebt über der Rille, setzt auf, und als knisternd die ersten Takte des Stückes „Me, Myself and I“ erklingen und er entzückt mitsummt, heult der Staubsauger auf, begleitet von lauten Schniefgeräuschen der putzenden Maria. Zeitgleich fordert die bildschöne psychisch leicht angeschlagene Gattin genau jetzt ein seit Jahren überfälliges klärendes Gespräch. Ein polnischer Handwerker portugiesischer Herkunft trifft bei äußerst geräuschvollen Durchbrucharbeiten die Abwasserleitung, sorgt für die Flutung eines der Zimmer und ruft den Mieter der darunterliegenden Wohnung, bei dem es jetzt durchregnet, auf den Plan. Wenn nicht gerade jemand unaufschiebbar genau jetzt mit ihm sprechen muß, wie auch sein bester ihn stets anpumpender Freund, klingelt entweder das Telefon oder es bimmelt an der Wohnungstür. Auf eine Stippvisite kommt der 30-jährige Sohn – von Beruf Globalisierungsgegner – vorbei, um seine schmutzige Wäsche bei Muttern abzugeben. Er lebt auf Papas Kosten in der Wohnung eine Etage höher, in der er einer neunköpfigen Flüchtlingsfamilie Asyl gewährt. Aber Michel gibt nicht auf! Immer wieder schwebt die Nadel über der schwarzen Scheibe, um wenn überhaupt, nur für einige Runden auf der Platte zu verweilen. Schön, daß dem guten alten Vinyl so eine bedeutende Rolle zugedacht wurde. Ich konnte mich mit dem auch schon wieder überholten Tonträger CD nie anfreunden. Die seelenlosen Plastikhüllen wollen sich schnell auflösen und gestapelt bei der geringsten Erschütterung umstürzen. An Schallplatten mag ich den Geruch und in Reih und Glied nebeneinandergestellt, geben sie im Regal auch ein schönes Bild ab. Die Lage eskaliert, als die Gemeinschaft der Hausbewohner wegen Regens sowohl draußen als auch in der darunterliegenden Wohnung spontan das für diesen Nachmittag anberaumte Mieterfest in Michels Wohnung verlagert. Sie rücken mit Kind und Kegel und mitgebrachten Speisen an. Der Sohn beschließt derweil, die Flüchtlingsfamilie in die größere und komfortablere Wohnung seiner Eltern umzuquartieren. Ruhe kehrt erst wieder ein, als Michel, nun von allen guten wie schlechten Geistern verlassen, allein in seiner völlig verwüsteten Wohnung zurückbleibt. Nur das kleine etwa fünfjährige Mädchen aus der Flüchtlingsfamilie ist dageblieben. Mit seinen großen dunklen Kulleraugen hat es Michel schon immer das Herz erweicht. Als er sich nun endlich wieder seiner Schallplatte widmen will und dabei erneut scheitert, gesellt sich das Mädchen zu ihm. Und bringt ihn auf eine gute Idee. Während der sehr kurzweiligen 75 Minuten steht Michel, gespielt von Christian Clavier, häufig kurz vor dem Kollaps. Er hatte doch kaum Zeit, sich von den Strapazen als M. Claude, Vater von vier Töchtern im heiratsfähigen Alter, zu erholen… Dem wachsamen Augenpaar an meiner Seite, das natürlich noch viel mehr Spaß hatte als ich, ist übrigens nicht entgangen, daß durch das Kappen der Frischwasserleitung die Abwasserleitung abgesperrt werden sollte, so ist das halt in Frankreich! Aber Komödien können sie unschlagbar gut, und das liegt bei diesem Film auch an den ausnahmslos tollen Darstellern!!!

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Elser – Er hätte die Welt verändert

Wäre es Elser gelungen, bereits am 08. November 1939 mit seiner selbst gebastelten Zeitbombe Hitler und den größten Teil der NS-Führungsspitze auszuschalten, hätte das bestimmt die Welt verändert! Über die Art der Veränderung kann man wild spekulieren, aber eines ist sicher: Schlimmer hätte es nicht kommen können. Der Regisseur Oliver Hirschbiegel (u.a. „Der Untergang“) hat mit seiner aktuell in den Kinos zu sehenden Verfilmung der Biographie Georg Elsers nicht nur bei mir eine Bildungslücke bezüglich der deutschen Geschichte geschlossen. Klaus Maria Brandauers Film „Elser, einer aus Deutschland“ von 1989 ist irgendwie an mir vorbeigegangen. Nach dem Kinobesuch habe ich mir mittels Wikipedia einen Überblick über Elsers Leben verschafft. Das hat mir geholfen, wenigstens im Nachhinein einige Szenen des Filmes besser oder überhaupt zu verstehen, weil die Hörfilmbeschreibung wieder einmal zu Hause bleiben mußte, wo auch immer das ist. Während der ersten Filmminuten war nur ein Stöhnen, Ächzen und Rutschgeräusche zu hören. Das waren Elsers letzte Anstrengungen, die Zeitbombe in der Säule hinter dem Rednerpult im Münchner Bürgerbräukeller zu installieren. Beim ersten Verhör wurde Elser angeherrscht, seine Hose herunterzulassen, man wollte seine Knie sehen. Ich habe mich gefragt warum, was wollen die mit Elsers Knie anstellen. Die Knie waren durch das Rumrutschen auf dem Boden des Bürgerbräukellers natürlich ramponiert und galten als ein wichtiges Indiz für seine Schuld. Elsers Plan war, Hitler und dessen Führungsspitze am 08. November 1939 mit einer von ihm allein gebastelten Zeitbombe zu vernichten. Bekanntermaßen hielt Hitler jedes Jahr genau an diesem Datum vor seinen Anhängern im Münchner Bürgerbräukeller eine Rede zum Gedenken an seinen am 08./ 09. November 1923 gescheiterten Putschversuch. Elsers Bombe ist wie von ihm zeitlich geplant explodiert, hat acht Menschen in den Tod gerissen und viele verletzt, nur die eigentlich Bestimmten wurden verschont. Wegen Bodennebels konnten Hitler und sein Führungsstab nicht wie geplant per Flugzeug nach Berlin zurück, sondern mußten auf einen früher fahrenden Sonderzug ausweichen. So haben sie 13 Minuten vor der Explosion den Bürgerbräukeller verlassen. Genauso tragisch finde ich, daß Elser bereits eine halbe Stunde vor der Zündung seiner Bombe bei seinem Versuch, sich in die Schweiz abzusetzen, verhaftet wurde. Seine Grenzkarte war abgelaufen, er trug das rote Abzeichen des Frontkämpferbundes, der Kampforganisation der KPD, und hatte eine Ansichtskarte des Bürgerbräukellers und Teile eines Zeitzünders bei sich. Das war nicht so durchdacht! In den Verhörräumen der Gestapo wird nun versucht, die Namen seiner Hintermänner aus ihm heraus zu prügeln. Keiner traut dem damals 36-jährigen einfachen Handwerksburschen aus dem Allgäu diese Tat im Alleingang zu. Immer wenn‘s all zu beklemmend in den Verhörräumlichkeiten wird, dürfen wir Zuschauer wie von Elsers Wunschdenken getragen in die Idylle des Allgäus und die wunderschöne Landschaft des Bodensees entfliehen. Elser war typisch für die „Luschtigen Leut“ dieses Landstriches kein Kind von Traurigkeit. Ich sage nur Wein, Weib und Gesang. Die Rückblenden zeigen, wie das häßliche Braun ab Anfang der 30er Jahre langsam, aber unaufhaltsam in den Alltag der doch so schönen Allgäuer Idylle sickert, bis Elser zu dem Schluß kommt, daß nur noch die Ermordung Hitlers das drohende Unheil abwenden könne. Bei einem der Verhöre wird ihm vorgehalten, daß die bei der Explosion zu beklagende Zahl der Todesopfer auf acht angestiegen sei. Einen Tag nach dem mißglückten Attentat wurden im KZ Buchenwald 20 Juden erschossen, als Vergeltungsakt. Das bei Regimen aller Couleur beliebte Druckmittel der Sippenhaft kam natürlich auch zum Einsatz. Als Elser mit der Sekretärin im Verhörraum für einige Augenblicke allein ist, nutzt er die Gelegenheit und bittet sie, den Opfern bzw. ihren Angehörigen sein Beileid zu übermitteln und seine eigene Familie zu benachrichtigen. Nach ganz kurzem Zögern schiebt sie Elser ein Schriftstück aus der Akte zu. Was auch immer darauf stand, ich habe keine Ahnung. Elser, bewundernswert und glaubwürdig dargestellt von Christian Friedel, erlebt beinahe das Kriegsende als Häftling unter vergleichsweise guten Bedingungen im KZ Dachau. Er hat eine Einzelzelle mit eigener Drehbank und seiner Zither. Hitler wollte ihn als seinen persönlichen Feind nach dem Endsieg in einem Schauprozess aburteilen. Wenigstens in dieser Hinsicht wurde Hitler ein Strich durch die Rechnung gemacht, was Elser allerdings 20 Tage vor der Befreiung Dachaus am 09. April 1945 mit seinem Leben bezahlen mußte. Der Film ist eine bewegende, lohnenswerte und längst überfällige Geschichtsunterrichtsstunde, in der keine Langeweile aufkommt. Auch besonders geeignet für Jugendliche ab 12 Jahre!

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Everything will be fine

Der Film ist der von Wim Wenders verfilmte Alptraum einer Mutter und eines Autofahrers in Schneeweiß und 3D! Am Ufer eines gefrorenen Sees irgendwo im tief verschneiten Kanada beobachtet der Schriftsteller Thomas am Ufer einige Männer beim Eisangeln. Über einen langen Steg gesellt er sich zu der Gruppe und wechselt mit Einigen, die er zu kennen scheint, kumpelhaft ein paar Worte über das Anbeißen der Fische. Zum Abschied bietet ihm einer der Angler eine Zigarette an, die er auf dem Weg zu seinem Auto mangels eines Feuerzeuges nicht anzündet, sondern einfach hinter seinem Ohr parkt. Gerade als er losfahren will, ereilt ihn ein Anruf seiner Freundin Sara. Sie erkundigt sich nach dem Stand der Dinge und den Fortschritten seiner schriftstellerischen Arbeit und wann sie zu Hause mit ihm rechnen könne. Genervt erwidert er, daß er ihr etwas sagen müsse, aber nicht jetzt, und legt auf. Während der Fahrt ist er mit dem Anzünden der Zigarette und dem Ignorieren zahlreicher Anrufversuche seiner Freundin beschäftigt. Als er wegen einer Umleitung auf eine noch unwegsamere und abgelegenere Straße ausweichen muß und wieder einmal sein Handy klingelt, kreuzt wie aus dem Nichts und blitzschnell ein Rodelschlitten seinen Weg. Er bremst und das zu vernehmende Geräusch verheißt nichts Gutes. Nach einigen Schrecksekunden, in denen er Stoßgebete von sich gibt, steigt er aus und stellt erleichtert fest, daß der kleine Junge unversehrt auf seinem Schlitten vor der Kühlerhaube sitzt. „Alles wird wieder gut“ murmelnd trägt er den fünfjährigen Christopher zu dem weit und breit einzigen, auf einer Anhöhe gelegenen kleinen Farmhäuschen, in dem Kate in ein Buch versunken am Kamin sitzt. Als Thomas ihr erklären will, daß eigentlich alles in Ordnung ist, fragt sie sofort und mehrmals: „Wo ist Nikolas?“ Sie stürzt hinaus zu dem parkenden Wagen und es ist nur noch ihr entsetzter Aufschrei zu hören. Noch mit diesem unter die Haut gehenden Schrei im Ohr erfahren wir nun, wie das Leben von Kate (Charlotte Gainsbourg), Thomas (James Franco) und dem heranwachsenden Christopher nach dem Unglück weitergeht, weil es ja irgendwie weitergehen muß. Zwölf Jahre ziehen vorbei. Die alleinerziehende Kate sieht man beim Schneeschippen, Brennholzsammeln, Laubfegen und sehr sehr oft beim Weinen. Die vielen schlaflosen Nächte verbringt sie mit Zeichnen, Lesen und Schreiben. Das Drehbuch bestimmt allerdings den schweigsamen und introvertierten Thomas als Hauptfigur, wie er mit sich um Schuld, Sühne und Vergebung hadert. Nach einem halbherzig durchgeführten Selbstmordversuch und begleitet von nicht unerheblichem Alkohol- und Drogenkonsum überwindet er seine schriftstellerische Schaffenskrise. Er verarbeitet das Drama in seinen Büchern und ihm gelingen dadurch einige Bestseller. Über seinen Verleger lernt er eine neue Liebe, ich glaube Annie, kennen und führt mit ihr und ihrer Tochter ein fast normales Familienleben. Als er nach fünf Jahren erstmals bei Kate auftaucht, begrüßt er sie mit sinngemäß folgenden Worten: „Ich gäbe alles, wenn ich das ungeschehen machen könnte!“ Ein Kind und dann auch noch im Kindesalter zu verlieren, ist das Schlimmste, was einer Mutter passieren kann. Ich habe keine Kinder und möchte mir erst gar nicht vorstellen, was ich in diesem Fall dem Schriftsteller geantwortet hätte. Kate, deren Worte in dem Film abgezählt zu sein scheinen, erwidert übrigens: „Sind Sie gekommen, um uns das zu sagen?“ Aber eigentlich war sie gerade dabei, ein Buch des US-amerikanischen Schriftstellers William Faulkner aus dem letzten Jahrhundert zu zerreißen und anschließend zu verbrennen. Sie konnte sich an dem Unglücksabend nicht von diesem Buch lösen, um die Jungs, die schon längst hätten im Haus sein sollen, hereinzurufen. In ihrer Verzweiflung gibt sie abwechselnd sich und dem Buch die Schuld. Dieses Erwägen einer – wenn auch nur kleinen – Mitschuld habe ich bei Thomas vermißt. Die ausgedehnte Autofahrtszene vor dem Unglück zeigte wild wischende Scheibenwischer, also schlechte Sicht für den Fahrer. Sie zeigte das Herumhantieren mit der Zigarette und die ständig abgelenkten Blicke auf das Handy. Wäre die Tragödie nicht doch zu vermeiden gewesen? Thomas empfindet natürlich großes Bedauern, zeigt aber zumindest kein Schuldgefühl. Christopher nimmt als 15-jähriger erstmals Kontakt zu Thomas auf und konfrontiert diesen mit der Frage, ob es richtig sei, auf Kosten des Familienschicksals Bestsellerbücher zu schreiben, während seiner Mutter seitdem ihre Tätigkeit für einen Verlag nicht mehr so leicht von der Hand ging. Während der langen Pausen in den Dialogen ist es dank der 3D-Technik möglich und auch beabsichtigt, in den Gesichtern die Gefühlsregungen zu lesen. Der Hörfilmbeschreibung, die ich dank Greta einmal wieder ins Kino mitnehmen konnte, ist der Balanceakt gelungen, diese Gefühle in Worte zu fassen und Momente der gewollten Stille zuzulassen. Auf Beschreibung der Kleidung und anderer Äußerlichkeiten wurde weitgehend verzichtet. Die grandiose Filmmusik hat bei mir einige Male eine Anspannung fast zum Zerreißen erzeugt, als ob für Thomas noch ein weiterer Schicksalsschlag vorgesehen wäre.

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Zu Ende ist alles erst am Schluß

„Zu Ende!“ bekomme ich immer bei unseren Fernsehabenden am Schluß eines Filmes vom anderen Ende der Couch zugerufen. Nicht selten erwischt mich dieser Zuruf auf kaltem Fuße, wenn nämlich schon Schluß ist, wogegen nach meinem ganz subjektiven Empfinden der Film noch nicht zu Ende sein kann. Bis auf wenige Ausnahmen bevorzuge ich eine in sich schlüssige und abgeschlossene Filmhandlung. So wie beispielsweise bei dem französischen Film „Zu Ende ist alles erst am Schluß“! Die 85-jährige Madeleine, ihr Sohn Michel nebst Gattin Natalie und deren 23-jähriger Sohn Romain sind eine ganz normale, drei Generationen umfassende, in Paris lebende Familie. Gar nicht normal ist das Verhältnis der Großmutter zu ihrem Enkel. Als Romain sein verspätetes Erscheinen auf der Beerdigung seines Großvaters mit der Verwechslung des Friedhofes entschuldigt, lächelt Madeleine nur verständnisvoll. Sie meint, daß ihr Mann ebenso immer dann aufgetaucht sei, wenn man nicht mit ihm gerechnet habe. Nach der Beerdigung geht jeder wieder seine eigenen Wege und Madeleine kehrt jetzt alleine in ihre schöne typische Pariser Wohnung zurück. Als sie dort stürzt, beschließen ihre Söhne über ihren Kopf hinweg und natürlich nur zu ihrem Besten, daß sie in einer Seniorenresidenz besser aufgehoben sei. Die geistig hellwache Madeleine läßt sich zunächst darauf ein, als sie aber nach kurzer Zeit in ihre Wohnung zurück möchte, muß sie feststellen, daß diese hinter ihrem Rücken aufgelöst wurde. Wie ein junges Mädchen macht sie sich heimlich auf den Weg nach Étretat, einem wunderschönen, an der Steilküste der Normandie liegenden Badeort. In dem Städtchen war sie zur Schule gegangen und mußte wegen der Kriegswirren in den 40er Jahre nach Paris umsiedeln. Der Einzige, dem sie mittels einer Postkarte einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort gibt, ist ihr Enkel. Romain macht sich auch sofort auf den Weg. Er begleitet sie auf ihren Streifzügen durch ihre Jugend und weicht bis zum Schluß nicht von ihrer Seite! Ich habe Madeleine, gespielt von der als Sängerin bekannten Annie Cordy, sofort in mein Herz geschlossen und sie war für mich auch die wichtigste Figur des Filmes. Das klingt alles erst einmal ein bißchen traurig, ist es ja auch, wenn man daran denkt, daß man vielleicht selbst in absehbarer Zeit wie Madeleine eben nicht mehr so ganz frei über sich und sein Leben bestimmen darf oder kann. Da ist es tröstlich zu sehen, wie die alte Dame sich die Kontrolle zurückerobert. Dennoch mangelt es nicht an Situationskomik. Dafür sorgen vor allem Romains Eltern, gespielt von dem Komiker Michel Blanc und Chantal Lauby (Madame Claude!). Der Regisseur Jean-Paul Rouve philosophiert als Hotelbesitzer mit Romain über den Sinn des Lebens und ein Tankwart hilft mit Lebensweisheiten bei Romains Suche nach der großen Liebe aus. Zu Ende geht auch das Berufsleben von Romains Vater und bedingt dadurch beinahe die Ehe seiner Eltern. Es gibt allerdings auch einen Anfang: Romain hat während seines Aufenthalts in Étretat endlich die lang ersehnte Liebe gefunden. Auch seine Eltern haben sich gerade noch so kurz vor Schluß wieder berappelt. Daß alles erst am Schluß zu Ende ist, klingt plausibel, wann auch sonst. Wie wann was wo und mit welchem Schluß zu Ende geht, kann gewollt, geplant oder provoziert sein, kommt aber auch überraschend und anders als gedacht. Wie das Leben eben so spielt!

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