Blog Blindgaengerin

Juni 2017

Auf einem Holzbrett ein kreisrunder Camembert, darauf steht mit Tomatenmark in großen Lettern V E B geschrieben

In Zeiten des abnehmenden Lichts

Nicht einmal das kleinste neu erstandene Minimöbel kann man sich fertig montiert und in einem Stück unter den Arm klemmen und nach Hause tragen, es ist immer ein Bausatz. Sind endlich keine Schräubchen und Winkelchen aus dem Paket mehr übrig, schaut der Mensch zufrieden auf sein Werk. Oft hört man ihn dann sagen: „Sitzt, paßt, wackelt und hat Luft“ Zwar nicht ganz zu 100 % nach den Regeln der Handwerkskunst zusammengebaut, kann man das gute Stück dennoch bestimmungsgemäß nutzen. Bei „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ ist das gute Stück ein alter, immens großer Tisch. Normalerweise in seine Einzelteile zerlegt, wird er nur einmal im Jahr im Haus der Familie Powileit aus der Versenkung geholt und zusammengebaut. Und seine einzige Bestimmung ist es, bei Wilhelm Powileits Geburtstagsfeiern das kalte Buffet zu tragen. In diesem Jahr zur Feier seines Neunzigsten legt Wilhelm beim Aufbau des Tisches zum ersten Mal und zum großen Entsetzen seiner Frau Charlotte selbst Hand an. Wütend und voller Ungeduld drischt er mit Hammer und Nagel die widerspenstigen Teile zusammen. Frei nach dem Motto „Was nicht paßt, wird passend gemacht“. Nur Wilhelms einziger Enkelsohn hätte dem Monsterteil auch ohne Einsatz von Brachialgewalt auf die vielen Beine helfen können. Aber Sascha hat die Platte geputzt! Wie so viele im Frühherbst 1989, hat sich auch der junge Mann mit Anfang 30 in den Westen abgesetzt. Das ist für den Großvater, ein hochdekoriertes SED-Parteimitglied, eine echte Hiobsbotschaft. Aber wenigstens der notdürftig zusammengenagelte Tisch tut seinen Dienst und erträgt die riesigen Bulettenberge des kalten Buffets. Bei den bestellten Hühnerbeinen gab es leider gerade einen Engpaß! Dafür fließen Wodka und Rotwein um so reichlicher. Die Parteigenossen, Nachbarn, Freunde und natürlich die Familie geben sich an Wilhelms Ehrentag in seinem Haus in einem wohlsituierten Stadtteil Berlins, der Hauptstadt der DDR, die Klinke in die Hand. Nicht erst jetzt, wo alle um den alten Herrn kreisen wie Motten um das Licht, zeigt Bruno Ganz, was er kann, nämlich in allen Gefühlslagen großartig schauspielern! Als Wilhelm macht er kein Hehl daraus, was er von den Menschen um sich herum hält, und das gilt ganz besonders für einzelne Familienmitglieder. Ob mit Hohn, Spott, Zynismus, Ungeduld, Wut, aber genauso auch warmherzig, großzügig und liebevoll, er begegnet jedem einzelnen so, wie dieser das seiner Meinung nach verdient. In meiner Erinnerung überwiegen allerdings die negativen Gefühlsausbrüche und manchmal hat’s mich schon geschaudert. Dafür waren die Auftritte der Genossinnen und Genossen, die dem nahenden Untergang der DDR mehr oder weniger klar und natürlich auch wodkageschwängert ins Auge sahen, umso komischer. Besonders schön war die Idee, die Bevölkerung mit heimischem, in Brandenburg produzierten und gereiften Camembert von der Ausreise abzuhalten, so ein Käse! Die Rollen dieser Parteifunktionäre waren genauso wie die aller anderen Gratulanten inklusive der Familienmitglieder hochkarätig besetzt. Besonders erfreut war ich, die israelische Schauspielerin Evgenia Dodina so schnell wieder auf der großen Leinwand zu sehen. Vor ein paar Wochen spielte sie in „Ein Tag wie kein anderer“ die weibliche Hauptrolle der Vicky und hier genauso überzeugend Wilhelms russische Schwiegertochter Irina. Auch Wilhelm schien sich über Irinas wenn auch verspätetes Erscheinen zu freuen. Und das nicht nur, weil sie ihm ein Päckchen Papirossy zusteckte, die am bestialischst stinkenden Zigaretten überhaupt, kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen! Daß mein 24-jähriger Neffe das Buch von Eugen Ruge, das hier verfilmt wurde, als Lektüre gewählt hätte, ist wohl eher unwahrscheinlich. Aber den Film hat er sich mit mir im Kino begeistert angeschaut! Zum Glück gab Ruge seine anfänglichen Bedenken, sein Buch verfilmen zu lassen, auf. Bei dem Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase und Regisseur Matti Geschonneck war sein Werk ja auch in den besten Händen! Mein junger Kinobegleiter aus Westdeutschland war von dem kurzen Ausflug in die Zeiten des Aufbruchs in der DDR im Herbst 1989 sehr fasziniert. Genauso beeindruckt hat ihn aber auch, wie ich dem Filmgeschehen folgen konnte. Dank der Audiodeskription über die App Greta konnten wir uns auf Augenhöhe sehr detailliert über den Film austauschen. Mein Neffe Lukas hat sogar ausführlich auf Facebook über unser gemeinsames Kinoerlebnis geschrieben! Ich geb‘s zu, ich habe die ganze Zeit auf die Erwähnung des „Mufutis“ gelauert, aber leider vergebens. Der Multifunktionstisch war höhenverstellbar und konnte mit einer Einschubplatte vergrößert werden. Je nach Bedarf funktionierte er als Coach- oder Eßtisch. Wer den Mufuti nicht kennt, hat entweder keinen Kontakt zu Bewohnern eines DDR-Haushalts oder den Film „Sonnenallee“ aus dem Jahr 1999 verpaßt! Der Tisch im Film mit seiner einzigen Bestimmung konnte sich übrigens nicht ganz bis zum Schluß auf seinen Beinen halten und entledigte sich der wahrscheinlich nicht mehr so ansehnlichen Reste des kalten Buffets. Ein bißchen weniger „Wackeln und Luft“ hätte das vielleicht verhindern können.

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Eine Balalaika mit nur zwei Saiten

Die Sache hat jetzt zwei Seiten!

So ergeht es gerade auch dem Instrument auf dem Foto. Allerdings ist der Balalaika eine Saite abhanden gekommen. Mit nur zwei statt drei Saiten ist es unmöglich, ihr die melancholischen Melodien zu entlocken, die für die traditionellen russischen Volksweisen so typisch sind. Was der Balalaika fehlt, hat unsere Sache gerade dazubekommen: Wir haben für die Kinoblindgänger gemeinnützige GmbH eine neue Seite aufgezogen! Der Blog der Blindgängerin wurde mit der Zeit zu unübersichtlich und jetzt ist die Kinoblindgänger gGmbH dort nicht mehr eine Kategorie, sondern sie hat eine eigene Seite. Der Auszug war die Gelegenheit, auch den Blog ein bisschen umzugestalten und einmal aufzuräumen. Die einleitenden Texte sind neu geschrieben und die Blogbeiträge unter „Meine Themen“ in sechs Kategorien geordnet. Die Kinoblindgänger-Seite hat ein modernes, an die Blindgängerin angelehntes Design bekommen. Dort stellen wir uns, mit wem wir wie arbeiten und unsere Projekte kurz und knackig vor. Der Blog und die neue Seite sind eng miteinander verbunden und tauschen sich regelmäßig miteinander aus, wie bei guten Nachbarn! Wie die neu aufgezogene Saite auf einem Zupfinstrument regelmäßig nachjustiert werden muß, bis sie die Stimmung hält, sind auch wir dabei, unsere neue Seite immer wieder zu überprüfen und kleine Korrekturen vorzunehmen. Auch wenn ich die vielen Fotos auf der neuen Seite natürlich leider nicht erkennen kann, möchte ich mich bei Andi Weiland für seine Geduld bei dem mehrstündigen Fototermin im Wolf Kino und im Tonstudio speaker-search, unter anderem mit der wunderbaren Sprecherin Nadja Schulz-Berlinghoff, ganz herzlich bedanken! In beiden Locations durften wir uns frei bewegen und ganz in Ruhe loslegen, dafür auch noch einmal vielen, vielen Dank! Aber den Löwenanteil an der Sache mit den zwei Seiten hat Lena Hoffmann bewältigt, und so viel kann ich ihr gar nicht danken, wie ich wollte!!! Zwei Monate harter Arbeit liegen hinter uns. Das ist auch der Grund für die spärlichen Blogbeiträge in letzter Zeit! Das Ergebnis findet sich hier: www.kinoblindgaenger.com   Es gibt noch jemanden, der zeitgleich mit einer neu aufgezogenen Seite an den Start geht! Die Aktion Mensch startete am 12. Juni ihre neue Kampagne zum Thema „Gemeinsamkeiten” (#wirgemeinsam). Dabei geht es um Gemeinsamkeiten von Menschen mit und ohne Behinderung, in Beruf oder Freizeit. Diese Gemeinsamkeiten sind oft schwer zu erraten, aber genau das haben mehrere Rateteams versucht. Die Filmlöwin und die Blindgängerin durften dabei sein, natürlich gemeinsam. Bei YouTube gibt es dazu zwei Videos. Die Raterunde https://www.youtube.com/watch?v=ddLOgaUd8T0   Filmlöwin und Blindgängerin stellen sich vor Auf der Webseite der Aktion Mensch ist alles über die diesjährige Kampagne zu erfahren. Dort sind neben „unserem“ auch die Videos zu zwei weiteren Gemeinsamkeiten zu sehen, die herauszufinden sind. Beim Zuschauen kann jeder für sich mit raten. Mit diesen Hinweisen belasse ich es für heute und sorge jetzt dafür, daß auch die Balalaika zu einer neuen Saite kommt!

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