Blog Blindgaengerin

In den Gängen

Ein kleiner Unterschied bei der Zeichensetzung, ein großer Unterschied für die Bedeutung!
Vom Leerzeichen hängt’s nämlich ab, ob jemand

hochstapelt, also mit betrügerischer Absicht eine hohe gesellschaftliche Stellung vortäuscht, oder hoch stapelt und so seiner Arbeit in einem Großmarkt nachgeht.

Wer in Supermärkten einkauft, begegnet ihnen in den Gängen, den Männern und Frauen in einheitlicher Arbeitskleidung, die für Nachschub in unseren Konsumtempeln sorgen. Ich höre sie manchmal durch die Regale miteinander flachsen. Sie begleiten mich bei meinen Einkäufen und beraten und helfen auch der sehenden Kundschaft freundlich bei der Suche nach den gewünschten Produkten.
Zum Beispiel wird Marion von der Süßwarenabteilung nach Schokolinsen gefragt. Lächelnd verschwindet sie mit dem Kunden um die Ecke und läßt Christian von der Getränkeabteilung stehen, mit dem sie gerade ein Schwätzchen gehalten hat.
Wer diesen beiden und deren Kollegen begegnen möchte, was ich wärmstens empfehle, kann dies nur im Kino mit Thomas Stubers Film

„In den Gängen“

In der liebenswerten ca. neunköpfigen Truppe herrscht ein harmonischer Umgangston. Sie halten zusammen und einen gigantischen Großmarkt irgendwo in der ostdeutschen Provinz am Laufen, wo gesächselt wird.

Bier, Wasser, Saft und Wein kaufen wir seit Jahren in demselben Getränkemarkt bei uns um die Ecke ein. Dort stapelt das Personal in roten T-Shirts die Kästen von Hand aufeinander.

Im Großmarkt tragen alle blaue Arbeitskittel. Die Kästen sind auf Paletten fixiert und werden mit einem Gabelstapler in Regale viele Meter hoch gestapelt. Das ist Brunos Reich (Peter Kurth). Meisterhaft beherrscht er seinen Stapler und jongliert mit Europaletten in schwindelerregender Höhe.

Als ihm Christian (Franz Rogowski) als Helfer an die Seite gestellt wird, nimmt er den jungen Mann väterlich unter seine Fittiche. Aber bevor Bruno den „Frischling“ anlernt, geht’s erst einmal „in die 15“, so heißt hier die kleine Zigarettenpause zwischendurch.

Den Spitznamen „Frischling“ bekommt Christian von Marion (Sandra Hüller) verpaßt, die er vom ersten Augenblick an nicht mehr aus den Augen läßt. Christian ist die zentrale Filmfigur und auch die schweigsamste! Und in Marions Gegenwart, die er so oft wie möglich sucht, bekommt er fast überhaupt kein Wort über die Lippen. Aber es gibt ja die kleine Torte statt vieler Worte und Marion plappert dafür um so mehr kokett flirtend auf ihn ein.

In Marions, Brunos und vor allem Christians Leben außerhalb des Großmarktes gewährt der Film nur vage und angedeutete Einblicke.

Aber da sind auch noch Irina von der Teigwarenabteilung mit ihrer markanten und verräucherten Stimme, Paletten-Klaus, der seine Ameise, einen Hubwagen mit Elektroantrieb, gegen jeden verteidigt, und Jürgen in dem Zigarettenhäuschen. Dort verkauft er die Rauchware stangenweise und hat immer ein Schachspiel vor sich. Was diese drei privat umtreibt, bleibt außen vor. So auch bei den übrigen, bei denen ich Namen und Personen leider nicht mehr zusammenbringen kann, obwohl ich ihnen damit unrecht tue.
Denn alle in den Gängen dieses Großmarktes lassen einen vergessen, daß dies auf der Leinwand geschieht und man selbst gar nicht beim Einkaufen ist!
Das ist das Verdienst der Darsteller, des Regisseurs Thomas Stuber und das von Clemens Meyer, der drei Jahre als Gabelstaplerfahrer in einem Großmarkt gearbeitet hat. Seine Kurzgeschichte über diese Lebensphase ist die Grundlage des Drehbuchs.

Ich denke, deshalb gehen die Filmfiguren so vertraut und routinemäßig ihrer Arbeit nach, oft ohne viel dabei zu sprechen.
Umso wichtiger war die Audiodeskription über die Greta und Starks App!
Wer hätte mich sonst während der vielen Dialogpausen auf dem Laufenden gehalten und mich bei den teils waghalsigen Gabelstaplermanövern mitzittern lassen? Entgangen wäre mir auch Marions und Christians zärtliche Eskimobegrüßung in „Sibirien“, dem Kühlraum des Marktes.
Ich habe jedes Wort der großartigen Sprecherin mit Genuß in mich aufgesogen und auch die Filmmusik, die das Geschehen den Stimmungen entsprechend abrundet, wie z.B. den genialen Großmarktblues zur Nachtschicht, wie ich ihn nenne!

Bevor meine Schicht jetzt und hier zu Ende geht, noch eines:
Erst zwei Monate nach Kinostart kam ich in die Gänge und die führten mich in das einzige Programmkino meines Bezirks fast um die Ecke.
Oft liegt das Gute so nah. Das Jahresfilmprogramm im „Kino im Kulturhaus Spandau“ wurde schon mehrfach als herausragend ausgezeichnet.
Und das werde ich künftig im Blick behalten!

2 Kommentare zu „In den Gängen“

  1. Liebe Barbara! Schön deine Rezension zu In den Gängen zu lesen. Der Film war mein Highlight der Berlinale, besonders mit der sehr gut gelungenen Audiodeskription.
    Herzliche Grüße aus Wien, Alina

  2. Liebe Barbara,

    auch ich kann den Film mit den großartigen Schauspielern wärmstens empfehlen und freue mich über Deine Rezension. Ich hatte das große Vergnügen, die einfühlsame und tolle Beschreibung von Detlef für Soundgarten redigieren zu dürfen. Dieser stille, eindringliche und zutiefst menschliche Film hat mich vom ersten Take und Takt an (Donauwalzer) gepackt. In der Art, wie er den sogenannten “kleinen Leuten” mit ihren irgendwie verkorksten Leben große Würde verleiht, erinnert er ein bisschen an die Filme von meinem Lieblingsfinnen Kaurismäki. Für mich der beste Film des Jahres 2017! Und auf jeden Fall wird man einen Großmarkt nie wieder so betreten wie vorher …
    Liebe Grüße aus Hamburg, Doris

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