Blog Blindgaengerin

September 2016

Zu Gast in Leipzig bei der Filmkunstmesse

„Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da, die Nacht ist da, daß was geschieht!“ Weiter im Text des uralten Gassenhauers heißt es dann unter anderem: „Die Nacht, die man in einem Rausch verbracht, bedeutet Seligkeit und Glück“ oder „Rebellion, Rebellion in den Katakomben“ Als Erster sang der Schauspieler Gustaf Gründgens diese Zeilen in dem Film „Tanz auf dem Vulkan“. Der Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels war über die Handlung und die Filmmusik nicht unbedingt erfreut. Trotzdem lief dieser Film im Jahr 1938 erstaunlicherweise unzensiert in den Kinos des Deutschen Reichs. Ich habe nicht auf dem Vulkan getanzt, rebelliert oder mich über die Maßen alkoholisch berauscht. Aber zum Schlafen bin ich nicht nach Leipzig gekommen. Und so waren meine Leipziger Nächte sehr lang, spannend, lustig und hochinteressant. Ich bereue keine schlaflose Minute. Zum 16. Mal veranstaltete die Arbeitsgemeinschaft Kino – Gilde deutscher Filmkunsttheater e.V. in Leipzig die Filmkunstmesse. Leipzig kann nämlich nicht nur Bücher, sondern auch Filme! Vom 19. Bis 23. September fanden sich dieses Jahr über tausend Kinobetreiber, Verleiher und Fachleute der Arthouse-Branche in der Messestadt ein. An zwei Tagen mischte sich auch die Blindgängerin als Vertreterin der Ki-noblindgänger gemeinnützige GmbH gemeinsam mit Lena unters Kinovolk. Nur wer ein Badge um seinen Hals trug wie früher die Schlüsselkinder den Hausschlüssel, hatte freien Zutritt zu allen Kinovorstellungen, Veranstaltungen und natürlich zu den abendlichen Partys und Preisverleihungen. Lena und ich gehörten dazu und das war ein tolles Gefühl! Ermöglicht hat das die AG Kino – Gilde, die uns freundlicherweise unkompliziert und kostenlos auf die Teilnehmerliste setzte. Dafür bedanken wir uns noch einmal herzlichst! Wir hatten also die wunderbare Qual der Wahl: Bei insgesamt 74 Filmen konnten wir uns aus Zeitgründen leider nur einige aussuchen. Konzentriert haben wir uns dabei auf ausländische Filmproduktionen, die möglichst erst im nächsten Jahr offiziell in den Kinos starten. Die Messe war die ideale Gelegenheit, sich schon einmal nach einem neuen Projekt für die Kinoblindgänger gGmbH umzuschauen. Unter den acht Filmen, die wir geschafft haben, wurden wir auch fündig! Die meisten liefen als Original mit Untertitel. Die französischsprachigen Filme verstand ich ganz gut, den auf Englisch, na ja, und beim Spanischen mußte ich dann doch weitgehend passen. Bei zwei Vorstellungen gab es die Möglichkeit, die App CinemaConnect von der Firma Sennheiser einmal auszuprobieren. Diese Gelegenheit haben wir uns natürlich nicht entgehen lassen. Sennheiser ist Partner und Sponsor der Filmkunstmesse und stattete extra für diese beiden Vorstellungen zwei Kinosäle mit seiner Technik aus, einem WLAN. Zuerst loggten wir uns mit unseren Smartphones im Kinosaal in dieses Netz ein. Damit hatten wir über die App Zugriff auf die französische Originalfassung des Films „Einfach das Ende der Welt“, die wir über unsere Kopfhörer hören konnten. Auf der Leinwand wurde währenddessen die deutsche Sprachversion abgespielt. Im Prinzip hat das zwar funktioniert, allerdings benötigt man dazu Kopfhörer, die einen zu 100 Prozent von den Außengeräuschen abkapseln. Die Meinigen, übrigens von Sennheiser, sind für solche Zwecke nicht gedacht. Ich hatte mit einem leichten Knistern die französische Fassung über Kopfhörer, und viel lauter die deutsche gleichzeitig in meinen Ohren. Das war eindeutig zu viel und so habe ich nach einigen Minuten das Experiment abgebrochen. Was die App CinemaConnect noch so alles kann und wie sie sich dabei von der App Greta und Starks unterscheidet, kann man sich in dem Hörspiel unter folgendem Link einmal anhören: Ein Hörspiel Der nächste Film lud nach Norwegen ein, natürlich auch als Originalfassung, und endlich war es soweit! Torsten Frehse von Neue Visionen Filmverleih (oben rechts im Bild) begrüßte das Fachpublikum zu „Welcome to Norway“, der am 13. Oktober startet. Dann war ich an der Reihe, die Kinoblindgänger gGmbH kurz vorzustellen, und konnte mit der ersten barrierefreien Fassung für diesen Film auch schon ein Ergebnis vorweisen. Die von Neue Visionen und Kinoblindgänger gemeinsam finanzierte Audiodeskription und Untertitel waren auch schon über die App Greta und Starks verfügbar. Lena und ich konnten uns also gleich einmal die Audiodeskription von der Greta ins Ohr flüstern lassen. Der Letzte soll der Nächste werden! „Mein Leben als Zucchini“ stand als letzter Film auf unserem Programm. Das gesamte Publikum schmolz bei dem Animationsfilm dahin und ließ sich von der Musik von Sophie Hunger verzaubern. Dieser Familienfilm aus der Schweiz wird Projekt Nummer drei der Kino-blindgänger und bekommt zum Kinostart am 16. Februar 2017 eine barrierefreie Fassung. Vorher wird aber noch Weihnachten mit „A Holy Mess“ am 22.12.2016 gefeiert. Für Lena und mich hieß es nach der zweiten noch längeren Nacht, leider Abschied von der Filmkunstmesse zu nehmen. Aber nächstes Jahr hängen wir mindestens eine dritte Nacht dran!

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Vor einer Gartenhecke stehen zwei kleine Bäume. In der Krone des vorderen sitzt die Blindgängerin im direkten Sonnenlicht und hält sich an den Ästen fest. Sie ist barfuß und trägt ein ärmelloses gelbes Top zu einem kurzen weißen Rock.

El Olivo

Die spinnen ja nicht, die Römer, und pflanzen einen Olivenbaum in Düsseldorf. Schon 55 Jahre vor Christus hätten sie dazu die Möglichkeit gehabt. Damals machten sich die Römer für einige Jahrhunderte auf dem Gebiet des heutigen Köln links des Rheins breit. Von dort wäre es zu dem vierzig Kilometer stromabwärts entfernten Düsseldorf auf der anderen Rheinseite ein Katzensprung gewesen. Aber als sich Düsseldorf aus mehreren kleinen Dörfern ganz allmählich zu der Stadt entwickelte, die sie heute ist, war die Zeit der Römer längst vorbei. Hinzu kommt, daß Olivenbäume genauso wie ich mediterranen Klimazonen den Vorzug geben, wie zum Beispiel der Region des Bajo Maestrazgo, des Grenzgebietes zwischen Valencia und Katalonien. Auch dort trieben sich einst die Römer herum und vielleicht stimmt es, was Ramón 2000 Jahre nach Christus seiner Enkelin Alma voller Stolz erklärt: „Den hier sollen die Römer gepflanzt haben, der Baum ist über zweitausend Jahre alt.“ Mit einem Stammumfang von über acht Metern ist er der Mächtigste in Ramóns Olivenhain und spielt die Hauptrolle in dem Film „El Olivo“. In seiner knorksigen Rinde kann man sogar zwei Augen und einen Mund ausmachen. Aber leider bringt er kein Wort über die Lippen, wo er doch bestimmt viel Interessantes zu erzählen hätte. Wie klein und zerbrechlich scheint dagegen das erst 12 Jahre junge Olivenbäumchen auf meinem Foto. Sein noch ganz glatter Stamm hat einen Umfang von gerade einmal 56 cm. Aber für mich war es stark genug und Oliven trägt es auch schon seit einigen Jahren. Den Großvater und seine achtjährige Enkelin Alma verbindet vor allem ihre Liebe zu dem uralten Olivenbaum, aber die glücklichen Stunden des Trios sind gezählt. Einen Schauspieler zu finden, dessen Gesicht und Hände von der jahrelangen harten Arbeit bei glühender Hitze in den Oliven gezeichnet sind, hat man erst gar nicht versucht. Ramón und auch die kleine Alma stammen aus derselben Region wie der Olivenbaum und sind beide keine professionellen Darsteller. Und so wie Ramón aussieht, klingt er auch, wie man entweder bei der spanischen Filmfassung oder zumindest im spanischen Trailer hören kann. Mit seiner sehr harten, rauen, energischen und leicht nasalen Stimme erteilt er der Absicht seines Sohnes Luis, den geliebten Olivenbaum für 30.000 Euro zu verkaufen, sehr schroff eine Absage. Trotzdem ist kurze Zeit später das Aufheulen und Dröhnen von Motorkettensägen und anderem schweren Gerät zu hören. Dem prächtigsten Olivenbaum in Ramóns Olivenhain geht es an den Kragen. Dieses Drama kann die kleine Alma auch nicht mit ihrer spontanen Baumbesetzung abwenden. Zurechtgestutzt, entwurzelt und für die lange Reise nach Düsseldorf vorbereitet wird aber nur ein extra für die Dreharbeiten aufwendig konstruiertes und zum Verwechseln ähnliches Double des Originals. Ramóns Freund, der Baum, ist zwar nicht tot, aber fort. Seit diesem Ereignis kommt kein Wort mehr über die Lippen des Großvaters. Damit ist der Geräuschpegel in der Familie aber kein bißchen gesunken. Wenn Spanier sich einfach nur unterhalten, hört sich das fast so an, als ob sie sich jederzeit an die Gurgel springen. Im Streit, und gestritten wird hier sehr viel, peitschen höllisch schnell gesprochene gewaltige Wortsalven durch die Luft. In der deutschen Fassung geht es mit den sehr treffend ausgewählten Synchronstimmen etwas gemäßigter zu. Als Nutzerin der App Greta hatte ich noch zusätzlich den Sprecher der Audiodeskription im Ohr. Mit seiner beruhigend tiefen Stimme läßt er sich auch bei der Beschreibung von Almas wildesten Tanzeinlagen nicht aus der Ruhe bringen. Er bleibt standhaft wie ein Baum. Die knapp sieben fetten Jahre des spanischen Baubooms sind längst vorbei und Almas Vater Luis hat die 30.000 Euro Erlös für den Olivenbaum im wahrsten Sinne des Wortes in den Sand gesetzt. Die nun folgenden mageren Jahre wollen kein Ende nehmen. Im achten Jahr faßt die inzwischen 23-jährige Alma einen Entschluß. Mit ihrem Onkel Alcachofa und Rafa, einem Arbeitskollegen, der still in sie verliebt ist, startet sie eine sehr abenteuerliche Rückholaktion, hola nach Düsseldorf! Koste es was es wolle, will sie ihrem Großvater den Baum und damit sein Leben und seine Sprache zurückgeben. Den Ausverkauf unzähliger sogenannter „Milenarios“, der uralten riesigen Olivenbäume, in alle Welt hat es besonders während des Baubooms in Spanien wirklich gegeben. Nach einer Reise in die Region des Bajo Maestrazgo und vielen Gesprächen mit den Menschen dort dachte sich der Drehbuchautor Paul Laverty die Geschichte um eines dieser traurigen Schicksale aus. Die Regisseurin Icíar Bollaín läßt diese Geschichte von charismatischen Darstellern mit viel Gefühl, spanischem Temperament und sehr großer Spielfreude erzählen. Sie gibt der Erzählung etwas Märchenhaftes und Hoffnungsvolles, ohne dabei den Blick auf die Realität zu verlieren, mit der vor allem die junge Generation des krisengeschüttelten Spanien heute noch zu kämpfen hat. Im Alten Testament bei der Geschichte von Noah und seiner Arche war ein Olivenzweig, damals im Schnabel einer Taube, schon einmal ein Hoffnungsschimmer für einen Neuanfang!

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