Blog Blindgaengerin

Autorenname: Barbara

Steve Jobs

Nur noch fünf Minuten Zeit, bis es heißt „Vorhang auf“ und Steve Jobs sich mit der neuen Errungenschaft von Apple, dem Macintosh, von dem ungeduldig wartenden Publikum feiern läßt. Wir schreiben das Jahr 1984. Steve zerrinnt die Zeit zwischen den Fingern, um das Objekt der Neugierde exakt nach seinen Vorstellungen zu präsentieren. Der Apple-Mitbegründer vermag zwar viel zu bewirken, aber die Zeit anhalten kann auch er nicht. Die Zeit macht nämlich „nur vor dem Teufel halt, denn er wird niemals alt, die Hölle wird nicht kalt und heute ist schon beinah‘ morgen.“ Das gab der Sänger Barry Ryan 1971 in der ZDF-Hitparade zu bedenken. Ganz anders erging es Madonna vor ungefähr 10 Jahren in ihrem Hit „Time goes by so slowly“. Sie zählt die quälend langsam verstreichenden Minuten bis zum ersehnten Telefonklingeln. Dieses rein subjektiv empfundene relativ schnelle oder langsame Vergehen der Zeit hat natürlich nichts mit der allgemeinen Relativitätstheorie von Albert Einstein zu tun. Fast auf den Tag genau vor 100 Jahren trug Einstein seine Theorie am 25. November 1915 bei der Preußischen Akademie der Wissenschaften vor. Auch Einstein stellte fest, daß die Zeit nicht gleichmäßig voranschreitet. Diese Variable läßt sich allerdings objektiv exakt berechnen. In einem anderen Sonnensystem, das sich relativ zu uns schneller bewegt, würde eine 5-Minuten-Terrine sechs Minuten brauchen, jedenfalls von hier aus betrachtet. Dafür wäre aber der Becher geschrumpft. Es soll Ableitungen seiner Theorie geben, nach denen man die Zeit so krümmen kann, daß die Zeit wieder in sich selbst zurückläuft, so eine Art Zeitschleife, habe ich gelesen. Und absolut nichts verstanden. Anzubieten hätte ich noch die Beschreibung der gekrümmten Raumzeit… Steve Jobs jedenfalls möchte um jeden Preis und auf den letzten Drücker erreichen, daß der Macintosh auf der Bühne seine Bestauner mit einem gesprochenen „Hello“ begrüßt. Was für die Sängerin Adele in ihrem aktuellen Hit „Hello“ ein Leichtes ist, will dem Mac einfach nicht über seine designte Benutzeroberfläche kommen. Um ihn zum Sprechen zu bringen, müßte er mit Spezialwerkzeug behandelt werden, welches dummerweise gerade außer Reichweite ist. Es war Steves erklärtes Ziel, den Usern das Herumschrauben an Apple-Produkten unmöglich zu machen, und das gilt bis heute. Damit hat er sich gegen seinen Mitstreiter der ersten Stunde, Steve Wozniak, durchgesetzt. Dieser fünfminütige Wettlauf mit der Zeit dauert im Film sehr kurzweilige 40 Minuten, die sich, von einigen Rückblenden abgesehen, in der Kulisse hinter der Bühne abspielen. Jobs befindet sich in einem Dauerredefluß und die anderen Protagonisten umkreisen ihn dabei wie Motten das Licht. Der Schauspieler Michael Fassbender, der mit dem Apple-Manager zu verschmelzen scheint, hat ohne Zweifel den Löwenanteil des Textes zu bewältigen. Weil 40 Filmminuten zu kurz sind, gibt es noch für zwei weitere Produkte zwei weitere Vorhänge. Vier Jahre nach dem Macintosh bringt Steve den NeXT auf die Bühne. Als Dritter im Bunde feiert zehn Jahre danach, 1998, der iMac seine Geburtsstunde und Steve, der dem knallgrünen Apfel zwischendurch den Rücken zugekehrt hatte, zugleich seine Rückkehr in den Konzern. Auch vor diesen beiden glamourös inszenierten Auftritten von Mensch und Produkt spielt sich der Minuten-Countdown wieder weitgehend hinter der Bühne ab und dauert jeweils 40 Filmminuten. Macht zusammen gute zwei Stunden. Für abwechslungsreiche Dialoge sorgen neben dem leicht durchgeknallten Jobs unter vielen anderen seine Ex-Freundin Chrisann, die Heulsuse, mit der gemeinsamen klugen Tochter Lisa. Aber was wäre Steve ohne seine rechte und, wie ich finde, auch linke Hand Joanna Hoffman. Kate Winslet ist immer scharfzüngig zur richtigen Zeit zur Stelle, um den Herrn auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Das Bild, das die Filmfigur bei mir hinterläßt, ist sehr zwiespältig. Dem Drehbuch lag eine autorisierte Biographie zugrunde und vieles im Film stimmt mit Wikipedia überein. So hat er Steve Wozniak, mit dem er 1976 die Firma Apple als Garagenfirma gründete, mehrmals gegen die Wand laufen lassen. Garagen und Teller haben eine erstaunliche Gemeinsamkeit: Beide können Millionäre hervorbringen. Steve Jobs‘ Vermögen wurde nach seinem frühen Tod 2011 auf 8 Milliarden Dollar geschätzt. Bemerkenswert fand ich eine Szene bei der Präsentation des iMac, als sich der große Steve Jobs kurz vor seinem grandiosen Auftritt die Füße in der Toilette wäscht. Was will uns das sagen, oder soll uns das überhaupt etwas sagen? Vielleicht zeigt sich hier schon die Idee von der Multifunktionalität der Dinge. Ohne Steve, die App Greta und selbstverständlich die Hörfilmbeschreibung wäre mir nicht nur dieses außergewöhnliche Detail verborgen geblieben. Die sympathische Sprecherin hat in den nicht relativ, sondern absolut kurzen Dialogpausen sofort das Wort ergriffen und knapp aber präzise souffliert. Am Ende des letzten Aktes zum Beispiel beschreibt sie, daß die inzwischen 19-jährige Tochter Lisa einen Walkman an ihrem Gürtel trägt. Dieses häßliche Teil läßt ihren Vater vor Ekel erschaudern. Das Vater-/ Tochterverhältnis ist nicht ganz unvorbelastet. Um ihren Vater zu ärgern, vergleicht sie dessen ganzen Stolz, den iMac, mit einem bunten Kinderbackofen. Damit liegt sie gar nicht so daneben! Aber kurz bevor der letzte Vorhang fällt, verspricht Steve seiner Tochter versöhnlich, ihr eine Unmenge Musik in die Jackentasche zu zaubern. Dieses Versprechen löst er drei Jahre später mit dem iPod ein. Mich hat er, natürlich ohne daß er das explizit wollte oder wußte, mit dem iPhone einige Jahre später beglückt. Steve Jobs war bekennender Beatles- und Bob Dylan-Fan und einige Jahre mit der Folksängerin Joan Baez liiert. Dem gebührend fällt der letzte Vorhang zu Ehren einer der bedeutendsten Persönlichkeiten der Computerindustrie zu den Klängen eines Dylan-Songs. Im Vorprogramm lief übrigens ein Trailer von Aktion Mensch, auf den ich unbedingt per Link aufmerksam machen möchte: https://www.youtube.com/watch?v=gZFHK3OwzFM Eine Art der Begegnung, wie sie Schule machen sollte, und die Reaktion des Publikums ist dafür der beste Beweis!

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Ein Hörspiel

Die Apps Greta und CinemaConnect flüstern den Kinoblindgängern die Audiodeskription im Kinosaal in die Ohren. Genau diese beiden Apps verbringen einen gemeinsamen Kinoabend und tauschen sich bei dieser Gelegenheit über ihren familiären Hintergrund und ihre unterschiedliche Arbeitsweise aus. Nach dem Kinoabend habe ich die beiden ins Tonstudio „speaker-search“ nach Berlin geschickt und ihnen zwei tolle Stimmen ausgesucht. Viel Spaß beim Lauschen!

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James Bond 007: Spectre

„Je suis Paris!“ Am Montag, dem 16. November 2015, um 12.00 Uhr verstummte für eine Minute mein Radio als einzige Geräuschquelle. Wer sich nicht an die zum Gedenken an Paris europaweit ausgerufene Schweigeminute hielt, war mein Handy, um mir idiotischerweise genau in diesem Moment seine Bildschirmsperre mitzuteilen. Ich fühle mich den Franzosen und Frankreich, das inzwischen meine zweite Heimat ist, von jeher sehr, sehr eng verbunden. Die Grausamkeiten vom letzten Freitag sind mir deshalb ganz besonders nahegegangen, auch wenn sich Ähnliches täglich irgendwo auf der Welt abspielt. Jeder hat wahrscheinlich schnell vor seinem geistigen Auge Revue passieren lassen, ob sich jemand aus dem Freundes- oder Familienkreis gerade in Paris aufhält. Ich mußte sofort an eine meiner besten Freundinnen denken, die beruflich während der letzten Woche auf einer Fotomesse in Paris zu tun hatte. Aber dank der sozialen Netzwerke bekam ich noch in derselben Nacht eine beruhigende Nachricht. Ans Schreiben meines Artikels über den aktuellen James Bond-Film war am Wochenende schon deshalb nicht zu denken, weil die Handlung teuflische Berührungspunkte mit den Ereignissen in Paris hat. Aber nichtsdesto- trotz…! „Spectre“, der Filmtitel, heißt übersetzt Schreckgespenst. Zugleich war das bereits in früheren Bond-Filmen die Abkürzung für die gegnerische Terrororganisation, „Special Executive for Counterintelligence, Terrorism, Revenge and Extortion“. Aktuell erfährt Bond erst später im Film, daß er dieses Mal vor der Organisation namens Spectre die Welt retten muß. Zunächst ist der Film mehr oder weniger ein Stummfilm. Zwischen fast martialisch und ohrenbetäubend lauter lateinamerikanischer Percussion ist gelegentlich ein undefinierbares Stimmengewirr zu hören. Nach einer gefühlten Ewigkeit fragt eine Frau mit südamerikanischem Akzent: „Wo gehst du hin?“ Die vertraute Stimme von James Bond antwortet. „Ich bin gleich wieder zurück!“ Ich denke, die Dame wartet heute noch. Kurz darauf gibt es noch ein paar Sätze auf Spanisch, einen mächtigen Knall, wieder Stimmengewirr und Motorengeräusche. Vom Nachbarsitz bekam ich zugeraunt, daß sich mit Totenmasken verkleidete Menschenmassen durch die Straßen einer mexikanischen Stadt in Richtung auf ein riesiges Stadion walzen. Genau dieses Stadion haben die spanisch Sprechenden im Visier, um es, natürlich erst wenn alle Menschen sich dort eingefunden haben, in die Luft zu jagen. Das ist das bei allen Bond-Filmen übliche Vorgeplänkel. Bevor es richtig zur Sache geht, hat der Titelsong seinen Auftritt und Sam Smith erhebt zu dramatischer, getragener Orchestermusik seine Stimme. Erheben kann hier wörtlich genommen werden. In dem Song „Writing’s on the Wall” singt er den höchsten Ton seiner bisherigen Karriere. Smith wollte ein dichterisch erzählendes Liebeslied und zugleich einen angemessen klassischen Bond-Song schreiben. Ersteres ist ihm gelungen. Wenn er auch den noch so hohen Ton trifft, erhebe ich den Song dennoch nicht in meine persönliche Bond-Song-Hitliste. Die wird angeführt von Adele mit „Skyfall“, Tina Turner mit „Golden Eye“, „Live and Let Die“ von Paul McCartney, „Dance into the Fire“ von Duran Duran und, der Erste soll der Letzte sein, „Goldfinger“ von Shirley Bassey. Daniel Craig hätte wohl gerne den Song aus dem Hause seiner Lieblingsband Radiohead gehabt. Nach jetzigem Stand wird er auch beim nächsten Bond-Film die Welt retten und vielleicht kann er sich dann mit seinem Wunsch durchsetzen. Der Songtitel „Writing’s on the Wall“ geht auf ein biblisches Motiv zurück und bedeutet ein unübersehbares Omen für ein drohendes und nur sehr schwer abwendbares Unheil, wie wahr! Um Klassen besser gefallen als der Song hat mir der Film. Ich mag, daß sich die Bond-Filme an eine gewisse Grundstruktur halten. Bond kommt nach dem Vorgeplänkel in seine Befehlszentrale, flirtet mit Moneypenny, bekommt von M meistens zuerst einmal eins auf den Deckel und wird von Q mit höchstraffiniertem technischen Schnickschnack und nicht ganz freiwillig den tollsten Autos ausgestattet. So ist es auch dieses Mal. Um während des Vorspiels die Katastrophe von den Stadionbesuchern abzuwenden, sprengt Bond einen ganzen Häuserblock inklusive der spanisch sprechenden Terroristen in die Luft. Das gibt international mächtig Ärger! Viele krachende Geräusche erklären sich erst im Nachhinein im Gespräch. Bei „Spectre“ muß sich Bond zunächst einmal selbst retten. Er soll wegen einer drohenden Fusion der konkurrierenden britischen Geheimdienste abgeschafft werden. Eine ganz wichtige Rolle im Film spielt ein Fingerring mit einem eingravierten Oktopus, dem Symbol der Spectre-Organisation. Da Ringe eher nicht sprechen, ist mir so ziemlich alles um dessen Bewandtnis entgangen. Bei einem Bond-Film im Kinosaal vom Nachbarn Informationen zugeflüstert zu bekommen, ist wegen des Geräuschpegels und der Ereignisdichte eine unmögliche Mission. Nächster Tage werde ich bei dem Verleih eine vorsichtige freundliche Nachfrage starten, wie es mit einer Hörfilmbeschreibung aussieht. Etwas Schlimmeres als eine Absage kann mir schließlich kaum passieren, aber vielleicht gibt es ja doch noch die Lizenz zum Hören! Entschädigt für das Fehlen der Audiodeskription hat mich die traditionell grandiose Bond-Filmmusik. Die Bläser kündigen bombastisch die unmittelbar bevorstehende Entladung einer dramatischen Situation an. Indes bauen die Streicher eine nervenzerreißende Anspannung auf und der heisere Triller einer Querflöte vermittelt etwas Verschwörerisches. Verfolgungsjagden werden meistens mit rasend schnellen Percussionwirbeln auf Congas begleitet. James hatte so viel zu tun, daß er kaum zum Trinken kam, und wurde sogar einmal mit einem alkoholfreien Getränk konfrontiert. Der Ekel in seiner Stimme war nicht zu überhören. Maßgeblich zum Gelingen seiner Mission tragen zwei Mäuschen bei, ein vierbeiniges und natürlich das zweibeinige Bond-Girl Madeleine Swann (Léa Seydoux). Im Film ist am Ende jedenfalls alles gut!!!

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Von App zu App!

Die Apps Greta und CinemaConnect haben dieselbe Bestimmung: Sie flüstern den Kinoblindgängern im Kinosaal über Kopfhörer an Phones smart die Bildbeschreibung des jeweiligen Films ins Ohr. Das tun die beiden bereits unterschiedlich lange und jede für sich auf ihre ganz spezielle Art und Weise. Mal hören, was sich die zwei sich in ihrem, wie ich finde, längst überfälligem Tête-à-Tête so zu sagen haben! Greta: Tach, CinemaConnect! CinemaConnect: Moin, Greta! Greta: Vor einigen Tagen bist du direkt neben mir ganz smart auf dem Bildschirm des Phones der Blindgängerin aufgeschlagen. Wie wär’s, wenn wir mal so von Nachbarin zu Nachbar und App zu App eine Runde plaudern und uns über uns und unsere Erfahrungen austauschen? CC: Du sprichst mir aus der Seele. Ich habe auch schon damit geliebäugelt, bei dir anzuklopfen, wollte nur nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Im App Store und Google Play umkreisen wir uns ja schon seit einiger Zeit, aber für ein gepflegtes Gespräch ist es da einfach zu ungemütlich. Mich kann man von dort übrigens kostenlos herunterladen! Greta: Mich auch. Jetzt erzähl aber doch mal von dir, seit wann gibt es dich und wie tickst du eigentlich? Daß du aus dem hohen Norden kommst, ist ja schwer zu überhören. CC: Jau, ich komme aus dem auch in Hamburg ansässigen Hause Sennheiser, dem Spezialisten für Kopfhörer- und Mikrophontechnik. Aber du bist ja schon länger in Aktion, ich glaube seit fast zwei Jahren, und deshalb mach du man den Anfang. Greta: Also gut. Ick komme aus Berlin und hatte meine Premiere im Dezember 2013 in einem Kino in den Hackeschen Höfen, und zwar mit der Hörfilmbeschreibung für den Film „Imagine“. Ich war an dem Abend ganz schön nervös. Erstaunlich viele frischgebackene Kinoblindgänger saßen mit gezückten Smartphones in der Vorstellung. Zum Glück hat alles gut geklappt. Seitdem habe ich einige kosmetische Eingriffe über mich ergehen lassen, um up to date zu bleiben. Das wird sich in unserer schnellebigen Zeit wohl auch in Zukunft nicht vermeiden lassen. CC: Wem sagst du das, das gilt ja App-übergreifend. Aber wer hat dich eigentlich erfunden? Greta: Jedenfalls nicht die Schweizer. Ich bin die Erfindung von Seneit Debese und die geniale Idee kam ihr vor vier Jahren bei den Dreharbeiten für eine Reportage über Kidisti Weldemichael. Die damals 19-jährige Kidisti war mit 12 Jahren überraschend erblindet und erzählte mit ansteckender Lebensfreude davon, wie das ihr Leben völlig umgekrempelt hat. Und sie beschrieb ihre Träume und Erwartungen für die Zukunft. Einer dieser Träume war, bei den Paralympics in London eine Medaille zu erlaufen. CC: Das klingt nach einer spannenden und Mut machenden Geschichte! Wer war dieses Mädchen? Greta: Kidisti kam ursprünglich aus Eritrea und lebte damals erst seit fünf Jahren in Halle. Im Netz findest du den Bericht unter dem Schlagwort „Kidi hat einen Traum“. Seneit hatte zuvor noch nie Kontakt mit jemandem, der nicht gucken kann, und ihr brannte die Frage unter den Nägeln, ob Kidisti auch ins Kino geht. Natürlich ging sie und sogar gerne mit ihren Freunden ins Kino, allerdings sei die fehlende Hörfilmbeschreibung eine Spaßbremse, du weißt ja! Von der lebensbejahenden Kidisti und dem damals erst so allmählich entstehenden Inklusionsgedanken inspiriert, wollte Seneit unbedingt einen Weg finden, die ja schon vorhandenen Hörfilmbeschreibungen nun auch in die Ohren der Kinoblindgänger im Kinosaal zu bekommen. Sie meint, das Kino sei ein Fenster zur Welt, und wenn die Menschheit schon seit 50 Jahren zum Mond fliegt, muß es doch eine Möglichkeit geben, daß wirklich alle gemeinsam durch dieses Fenster schauen können. Na ja, für einige muß eben einfach nur der Rolladen hochgezogen werden. CC: Das mit dem Fenster und dem Rolladen ist eine echt schöne Metapher, aber wie kommst du eigentlich auf den Begriff „Kinoblindgänger“? Greta: Der ist nicht auf meinen Mist gewachsen. Unsere Zielgruppe so zu nennen, war die Idee der Blindgängerin. CC: Da hat die Blindgängerin den Nagel wirklich auf den Kopf getroffen, jeder kann sich sofort vorstellen, wer gemeint ist. Greta: Stümmt, und ihre Seite bei Facebook heißt jenauso. Aber bevor ich vor Neugier platze, wer hat dich eigentlich aus dem Hut gezaubert? CC: Ein Geistesblitz! Greta: Donnerwetter! CC: Das kam danach. Erst einmal geistesblitzte es vor sechs Jahren in den Köpfen der Herren Andy Niemann von Sennheiser und Jörn Erkau von einer Firma für Besucherinformationssysteme. Greta: Wie bitte?! CC: Ja, du hast schon richtig gehört. In dem Wirtschaftsmagazin „Brand Eins“ kannst du in der Ausgabe vom August 2015 unter der Überschrift „Wie bitte?!“ alles in Ruhe nachlesen. So wie wir gerade schnacken, plauderten die beiden Herren bei einem Abendessen über die Schulung von Personal, das die Audioguides pflegen und an die Besucher ausgeben soll, zum Beispiel in einem Museum. Ausgelöst hatte den Geistesblitz das brandneue Smartphone von Herrn Erkau, der zwischen Hauptgang und Dessert seine neue Errungenschaft vorführte, mit all den darauf herumwuselnden Apps. Beim Anblick dieses Gewusels funkte es bei den Herren. Es entstand die Idee, die Besucher könnten statt eines Audioguides im gegenständlichen Sinne ihr Smartphone mit einer entsprechenden App nutzen. Greta: Das klingt pfiffig, aber was nutzt dit den Kinoblindgängern? CC: Gemach, gemach, in der Ruhe liegt die Kraft! Die beiden Herren waren von da an ein Team. Für meine Entwicklung, ich war mittlerweile immerhin schon einmal ein Projekt, wurde sogar eine Firma gegründet, die Sennheiser Streaming Technologies GmbH mit Sitz in Hamburg. Schnell wurde nämlich erkannt, daß der Geistesblitz nicht nur Museums- und Konferenzbesuchern nutzt, sondern auch Schwerhörigen den Theater- und Kinobesuch schmackhafter machen könnte. Ich komme nun mal aus der Branche für Mikrophon- und Kopfhörertechnik. Mensch Greta, du zappelst schon wieder so ungeduldig, gleich komme ich wieder auf die Kinoblindgänger zu sprechen. Aber vorher muß ich noch einmal ein büschen ausholen. Ich bin nämlich der jüngere Bruder von MobilConnect, der hat den Job, sich um alle möglichen Live-Events zu kümmern. Alles bei solchen Veranstaltungen in ein Mikrophon Gesprochene wird als Daten an die Connectstation übermittelt. Die ist eine etwa 50 cm breite Zauberbox, die irgendwie ein geschlossenes drahtloses Netzwerk aufbaut und das Palaver fließend wie ein Strom an beliebig viele Smartphones sendet, deshalb

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A Perfect Day

Der perfekte Tag begann an einem totstillen, finsteren, naßkalten und beklemmenden Ort. Den Wechsel zwischen hell und dunkel auf der anfangs nur spärlich beleuchteten Leinwand konnte ich immerhin noch gut ausmachen. Wasserrinnsale plätscherten die nackten Wände herunter und ich war froh, in dem gut beheizten und trockenen Kinosaal zu sitzen. Die unheimlich hallende Akustik tat ihr Übriges, als Metall auf Metall stieß, und ich an einen unterirdischen und engen Raum mit hohen Wänden denken mußte. Getippt habe ich auf eine Kanalisation. Zum Glück konnte sich die Idee nicht durchsetzen, den Filmgenuß im Kinosaal noch mit den entsprechenden Düften zu steigern. Aber ich hatte mich vertippt. Es ist ein Brunnen. In den ist zwar kein Kind gefallen, aber ein Mann geworfen worden. Der Mann ist tot, das erklärt schon einmal den fehlenden Dialog. Gesprochen wird erst, als das Tageslicht die Leinwand erhellt. Um den Brunnen herum beratschlagen die Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation (NGO), wie der leblose bereits verwesende Körper schnellstmöglich geborgen werden kann. Ansonsten stünde die Trinkwasserversorgung aller Bewohner eines Dorfes irgendwo in Bosnien auf dem Spiel. Beim ersten Versuch ist der Tote der Stärkere, genauer gesagt der Schwerere, und entscheidet die Zerreißprobe des einzigen weit und breit aufzutreibenden Seiles für sich. Die Helfer brauchen ein Zweitseil, das dem Fettsack, wie sie ihn nennen, standhält. Ihre abenteuerliche Autofahrt durch das bergige unwegsame Bosnien auf der Suche nach einem tauglichen Seil zieht sich ab jetzt als roter Faden durch das Filmgeschehen. Zeitlich fällt die Seilsuche in das Jahr 1995, in dem die bürgerkriegsähnlichen Kämpfe unter den sechs jugoslawischen Teilrepubliken nach drei Jahren ein Ende fanden. Ein Ende fand damit auch die 1945 ausgerufene Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien. „Jugo“ heißt übersetzt Süden, die Slawen sind slawischsprachige Volksstämme und fertig war das Kunstgebilde Jugoslawien: Ein Mix unterschiedlichster ethnologischer und religiöser Volksgruppen, deren einzige Gemeinsamkeiten die südliche geographische Lage und die slawische Sprache waren. In dem Gebiet des heutigen Staates Bosnien-Herzegowina wüteten die Kämpfe besonders lange und grausam. Deshalb stationierte man zur Sicherung des Friedensprozesses die IFOR und verschiedene Hilfsorganisationen versuchten, das Leid der Zivilbevölkerung zu lindern. Auf die Seilsuche begeben sich die prominent besetzten NGO-Mitarbeiter Mambrú (Benicio del Toro), B (Tim Robbins) und Sophie (Mélanie Thierry). Später gesellen sich noch Katya (Olga Kurylenko), ein Dolmetscher und ein kleiner einheimischer Junge zu der Seilschaft. So wie bei „Er ist wieder da“ der gleichnamige Hit von Marion Maerz aus der Versenkung geholt wurde, hätte das hier mit dem Song „Perfect Day“ von Lou Reed aus dem Jahr 1972 wiederholt werden können. Aber „Hätte, hätte, Fahrradkette“, ein Zitat des Genossen Peer Steinbrück aus seiner Zeit als Kanzlerkandidat! Lou Reed besingt in “Perfect Day” seinen höchstpersönlich perfekten Tag, leider ohne zu verraten, wer oder was genau diesen Tag so perfekt macht. Im Film wird dank des Jungen, der die NGO-Leute zu seinem verlassenen Elternhaus führt, das perfekte Seil für den zweiten Versuch gefunden. Problematisch ist nur, daß das Seil an einer Seite irgendwo angebunden ist, während an dem anderen Ende ein gefährlich bellender wütender Hund hängt. Im nächsten Moment macht das Helferteam in dem ziemlich zerstörten Haus einen grausigen Fund. Die Figuren nehmen den Zuschauer mit in ihre ständig wechselnden Gefühlslagen und es wird einem nichts erspart. Oft kann man sich bei den grotesk komischen Situationen auch das Lachen nicht verkneifen. Begleitet werden die Protagonisten von der perfekt ausgewählten und immer passenden Musik. Lou Reed singt zwar nicht solo, ist aber einige Male als Sänger und Mitbegründer der Band „The Velvet Underground“ zu hören. Die psychedelischen, ruhigen und leisen Klänge werden je nach Stimmung des Filmes vom lauten, chaotischen, fast zerstörerischen Punkrock der Ramones, von Marilyn Manson oder den Buzzcocks abgelöst. Dazwischen ist wieder der melodischere Gesang von Gogol Bordello mit einem leicht folkloristischen Einschlag zu hören. Ein außergewöhnlicher Film verlangt eben nach der entsprechenden Musik. Ein Tag ist für die Helfer wohl schon dann perfekt, wenn sie nicht auf eine der vielen Landminen auffahren, nicht von marodierenden Soldaten überfallen werden, und trotz aller bürokratischen Hindernisse wenigstens ein bißchen helfen können. Dem spanischen Drehbuchautor und Regisseur Fernando León de Aranoa ist es gelungen, solch einen perfekten Tag so glaubhaft und traurig wie leise und humorvoll zu zeigen. Die Romanvorlage zum Film stammt von Paula Farias, die in ihrem Buch „Dejarse Llover“ (Laß es regnen) über ihre eigenen Erfahrungen als Mitarbeiterin von „Ärzte ohne Grenzen“ schrieb. Der Film entläßt das liebenswerte Helferteam mit dem Auftrag, sich um die verstopften Latrinen in einem eilig errichteten Flüchtlingslager zu kümmern. Ich konnte noch einmal aufatmen und die gute Luft im Kinosaal einatmen. Popcorn statt Latrine! Was für ein perfekter Kinoabend!

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Leipziger Allerlei mal anders!

„Verstecken wir den Speck und bringen nur noch Gemüse auf den Tisch, sonntags vielleicht ein Stückchen Mettwurst…“, riet der Legende nach Malthus Hempel, ein Stadtschreiber, den Stadtvätern von Leipzig um 1815 kurz nach Beendigung der napoleonischen Kriege. Das so erfundene Gemüsegericht, heute als Leipziger Allerlei bekannt, sollte die einst reiche Stadt vor Bettlern und Steuereintreibern schützen. Wenn sich das wirklich so zutrug, machte man sich damals aus heutiger Sicht mit dem Verzehr jeder einzelnen jungen Erbse, Karotte, Spargel und Morchel der Steuerhinterziehung strafbar. Zu dem Straftatbestand gesellten sich oft auch grüne Bohnen, Blumenkohl und Kohlrabi. Das klassische Leipziger Allerlei wird mit Flußkrebsen, Krebsbutter und Semmelklößchen serviert, klingt wirklich lecker und kommt bei mir demnächst in einem garantiert runden Suppenteller auf den Tisch! So allerlei einfallen ließen sich auch die Mitarbeiter der Deutschen Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig (DZB) und öffneten am 5. September die Türen für interessierte Besucher. Wie in allen Bibliotheken, ist auch in der DZB ausschließlich geistige Nahrung zu finden. Die heute mit den modernsten Techniken ausgestattete DZB kann stolz auf eine 121-jährige Geschichte zurückblicken. Die Wurzeln gelegt wurden im November 1894, als die erste öffentliche Leihbücherei für Blinde in Deutschland gegründet wurde, unter dem Namen „Verein zur Beschaffung von Hochdruckschriften für Blinde zu Leipzig“. Heute ist die DZB ein Staatsbetrieb des Freistaates Sachsen und wird seit 1999 von Prof. Dr. Thomas Kahlisch geleitet. Kaum angekommen in der Gustav-Adolf-Straße 7, konnte ich mich einer der Führungen durch das Haus anschließen, untergehakt bei dem netten Herrn, der unser Grüppchen führte. Es öffneten sich unzählige Türen, hinter denen jeder einzelne in Schwarzschrift gedruckte Buchstabe technisch aufwendig ertastbar oder hörbar gemacht wird. Hinter der ersten Tür zu einem der Tonstudios bekamen wir eine Hörprobe, wie eine geschulte Sprecherin unter der Regie eines Tontechnikers ein Buch zu einem Hörbuch vertonte. Unter den jährlich rund 100.000 Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt haben die Mitarbeiter die Qual der Wahl und müssen sich aus Kapazitätsgründen für 300 Titel entscheiden. Die Dame hinter der zweiten Tür hat es mit der Daisyfizierung zu tun, das klingt nur gefährlich und ist garantiert keimfrei! Rückblickend kommt die Einweihung der Hörbücherei der DZB im März 1956 einer Revolution gleich. Bis dahin waren blinde und vor allem spät erblindete Menschen, die die Punktschrift meist nicht erlernt hatten, vom Genuß jeglicher Literatur ausgeschlossen. Den Startschuß gab „Der Lotterieschwede“ von Martin Andersen Nexø, das erste in Leipzig damals auf ein Magnettonband gesprochene Hörbuch. Meine ersten Hörbücher von der inzwischen abgewickelten Süddeutschen Blindenhörbücherei spielte ich von den inzwischen ebenso quasi abgewickelten Kassetten ab. Oft hatten die Gehäuse einen Knacks und es kam zu unzähligen Bandsalaten nicht selten bei der letzten von 30 Kassetten. Das ist, als ob die letzten Seiten eines spannenden Buches herausgerissen wären. Diesem Drama machte eine schwedische Blindenbücherei 1992 ein Ende, als sie das DAISY-Hörbuch entwickelte, einen weltweiten Standard für navigierbar zugängliche Multimedia-Dokumente. Was da so kompliziert klingt, ist ein Datenträger im MP3-Format. Dieser kann auf einem speziell entwickelten Gerät, ähnlich einem Discman, abgespielt werden. Mit viel technischem Komfort ist das Gerät auch für Blinde problemlos zu bedienen. Das DAISY-Hörbuch hat die altehrwürdige Kassette seit 13 Jahren abgelöst und so nach und nach wird der Kassettenaltbestand „daisyfiziert“. Neben dem Lotterieschweden und der innovativen schwedischen Blindenbücherei ist Gustav II. Adolf als Namensgeber der gleichnamigen Straße der dritte Schwede im Bund. Mit seinem Eingreifen in den Dreißigjährigen Krieg verhinderte der bedeutendste Schwedenkönig den Sieg des kaiserlichen Lagers der Habsburger und sicherte damit indirekt die Existenz des deutschen Protestantismus. Tragischerweise führte die Beeinträchtigung seines Sehvermögens durch witterungs- und schießpulverbedingten Nebel in der Schlacht bei Lützen im November 1632 zu seinem frühen Tod. Orientierungslos lenkte er sein Pferd irrtümlicherweise in die feindlichen Truppen. Die nächste Tür zur Reliefabteilung sollte für mich die letzte sein. Wir bekamen ein Papier mit Erhebungen, ein sogenanntes Schwellpapier, in die Hand gedrückt. Die thermoplastische PVC-Schicht dieses Spezialpapiers läßt sich bemalen oder bedrucken. Anschließend wird das Blatt in einem speziellen Gerät beleuchtet, bis sich die geschwärzten Stellen erwärmen und anschwellen. Punkt, Punkt, Komma, Strich, und fertig ist das Mondgesicht, das sich aber erfolgreich weigerte, von mir ertastet zu werden. Neben Mondgesichtern können mit dieser Technik einfach und kostengünstig Bilderbücher für Kinder und Graphiken aller Art tastbar gemacht werden. Die spannende Führung war für mich damit leider zu Ende, ich hatte ja noch eine Aufgabe! In den großen Räumen des Versands hingen vor meinem Einsatz die Fußballbegeisterten an den Lippen des Blindenreporters Axel Ackermann. Dank des Engagements des Behindertenfanbeauftragten, wie er sich jetzt nennt, werden die Fußballspiele des Vereins RasenBallsport Leipzig in der Red Bull Arena mit einer live eingesprochenen Audiodeskription auch für die blinden RB-Fans zum ganz großen Fußballerlebnis. Kurz vor dem Abpfiff gab es am Kickerautomaten eine Kostprobe der schweißtreibenden Sonderberichterstattung und deshalb hat sich Herr Ackermann auch noch zwei Co-Bildbeschreiber auf das Spielfeld geholt. Dann hatte mein Stündlein geschlagen. Als Demo-DVDs hatte ich mich für „M. Claude und seine Töchter“ und „Die Sprache des Herzens“ entschieden. Die Hörfilmbeschreibung dazu war nicht live, sondern kam aus der Konserve. Sie war auf der App von Greta geparkt und wurde über mein an einen Lautsprecher angeschlossenes Smartphone laut in die Runde geflüstert. Nach einigen Filmminuten mußte ich die gemütliche Kinovorstellung aus Zeitgründen abbrechen und beantwortete nach bestem Wissen und Gewissen alle Fragen über Audiodeskription im Allgemeinen und über die App von Greta mit dem Smartphone im Besonderen. Vom Kino ging es direkt nach England ins Schloß Fotheringhay, wo Mary Stewart auf ihr Todesurteil und dessen Vollstreckung wartete. Diese Szene aus dem Theaterstück „Maria Stuart“ von Friedrich Schiller wurde von einem Beamer auf die Leinwand im Versandraum projiziert und Beatrix Hermens sprach dazu live mit ihrer schönen, warmen und ruhigen Stimme die Bildbeschreibung, die auch ihrer eigenen Feder entstammte. Im Schauspiel Leipzig gibt es seit 2013 monatlich eine Vorstellung, bei der die Bildbeschreibung über Kopfhörer in die Ohren der Theaterbesucher kommt. Die Dramaturgin des Schauspiel Leipzig, Christin Ihle, hatte ein Modell des Bühnenbildes zum Ertasten mitgebracht und die in den Kostümen steckenden Puppen durften in Ruhe untersucht werden. Die große Herausforderung an die

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Ein Berliner Zeitungskiosk mit gelber Holzfassade und einer gelbgestreiften Markise. Der Verkäufer sieht aus der geöffneten Ladenluke in Richtung eines Mannes, der mit aufgerissenen Augen auf die Zeitung in seiner Hand schaut. Der hat ein Hitlerbärtchen. An seiner Uniformmütze eine goldene Kordel. An der Mütze und am Ärmel seines grauen Uniformmantels trägt er das Emblem des Reichsadlers.

Er ist wieder da

Schon vor 50 Jahren konnte die deutsche Schlagersängerin Marion Maerz in der ZDF-Hitparade ein Lied davon singen, daß er wieder da ist. Damals schüttete sie zu der moll-lastigen Melodie ihr Herz natürlich nicht über den da aus, der sich gerade durch die deutsche Kinolandschaft demagogisiert, sondern über den da, der zwar wieder da ist, aber leider eben nicht bei ihr. Jetzt ist ihr größter Hit wieder da, weil die Filmemacher von „Er ist wieder da“ die letzten Filmminuten mit genau diesem gleichnamigen Schlager ausklingen lassen. Da liegt er also plötzlich im Sommer 2014 rücklings wie ein gestrandeter Maikäfer, auferstanden aus Ruinen, in seiner ramponierten Nazi-Uniform auf dem Boden irgendeiner Berliner Baulücke. Wer eigentlich? Es ist der da, der sich am 30. April 1945 feige und selbstbestimmt im Führerbunker ins Jenseits beförderte. Nach dem Motto „Totgeglaubte leben länger“ ist der Führer als 56-jähriger wieder da und staunt genauso wie die Zuschauer, wie das vonstatten gegangen sein könnte. Er stellt schnell fest, daß er der einzige des Naziregimes ist, der wieder da ist, und begreift so nach und nach, in welche Zeit es ihn katapultiert hat. Aber Hitler kapituliert vor den damit verbundenen Herausforderungen genauso wenig, wie er 1945 einer Kapitulation des deutschen Reiches zustimmte. Er beginnt, Kapitel für Kapitel die Veränderungen seiner Umwelt seit der Kapitulation zu entdecken, interpretiert diese für sich aber recht eigenwillig. Beim Verzehr eines Müsliriegels, wie er meint „gepreßtes Korn“, schließt er auf immer noch bestehende Versorgungsengpässe. Wegen der auffälligen Präsenz türkischer Landsleute stellt er zunächst wohlwollend fest, daß der einst unentschlossene türkische Kriegsverbündete dem Deutschen Reich doch noch zu Hilfe gekommen sein muß. Bei seinem Rundumschlag durch die politische Landschaft stellt er allen außer den Grünen ein gleichermaßen vernichtendes Urteil aus. Wenn überhaupt, ist es die grüne Landschaftspfleger-Partei wert, ihm bei seiner erneuten Machtergreifung Hilfsdienste zu leisten. Die teuflisch gute Idee, die Zustände des heutigen Deutschland aus der Sicht dieses kranken Hirns zu analysieren, hatte der deutsche Journalist, Buchautor und Übersetzer Timur Vermes. In seinem 2012 erschienenen Buch „Er ist wieder da“ treibt Vermes diese Idee auf die Spitze. Er läßt Hitler vermeintliche Probleme erkennen, seltsame Lösungswege entwickeln und in Führermanier durchsetzen. Christoph Maria Herbst gelingt es in dem Hörbuch, die schauderhafte Stimme so gut zu imitieren, daß man meinen könnte, vor einem Volksempfänger dem neuesten Wahnsinn des Reichskanzlers zu lauschen. Im Film übernimmt Oliver Masucci die Führerrolle. Ihm gelingt es nicht nur, so schauderhaft zu sprechen, sondern auch noch so auszusehen, eben so wie in einer Ausgabe der Wochenschau 2014. Deshalb liegt sein Wiedererkennungswert bei allen, auf die er trifft, bei 100 Prozent, und weil nicht sein kann, was nicht sein kann, halten ihn alle für einen neuen, noch nicht entdeckten Kometen am Comedianhimmel. Recht schnell entdeckt ihn die Medienwelt als den größten Führerimitator und rock zock demagogisiert er vor laufenden Kameras in der Talkshow eines Privatsenders das Publikum. Demagogie kommt aus dem Griechischen und bedeutet Volk und Führen. Der Demagoge in der Antike war ein angesehener Redner und Führer des Volkes bei politischen Entscheidungen. Ihren Höhepunkt erfuhr die Demagogie im 20. Jahrhundert als Mittel der Ideologisierung der Massen und das führte zu dem totalen Imageverlust des ursprünglich positiven Begriffs. Hitler war zu seinen eigentlichen Lebzeiten ein Meisterdemagoge und schürte aus Machtgier methodisch Emotionen und Vorurteile seiner Zuhörerschaft. Es ist mir ein Rätsel, wie er mit dem schrecklich gerollten r und seiner kehligen Brüllstimme, mit der er seine Schrecklichkeiten wortweise eher herausspuckt als spricht, die Massen so in seinen Bann ziehen konnte. In dem Kinderbuch „Urmel aus dem Eis“ gibt es einen See-Elefanten namens Seele-Fant. Er liegt den ganzen Tag einsam auf einer Eisscholle vor der Insel Titiwu und seine Lieder klingen deshalb besonders trübselig, weil er die Vokale umlautet, also verändert. Der Ex-Diktator hat einen verblüffend ähnlichen Sprachtick wie der traurige Seele-Fant. In der Jetztzeit genießt er in den Talkshows als vermeintlicher Imitator des Führers eine Narrenfreiheit, die er gnadenlos für seine Propagandazwecke ausnutzt. Den Verantwortlichen hinter der Kamera stockt schon manchmal der Atem, mir übrigens auch, aber man läßt ihn gewähren, wie damals! Als ob das nicht schon genug wäre, setzt der Regisseur und Drehbuchautor David Wnendt noch einen drauf! Das Hitler-Double wird, begleitet von dem Fernsehfritzen Sawatzki (Fabian Busch), auf das real existierende heutige deutsche Volk losgelassen. Von dem so gewonnenen Doku-Material werden ca. 25 Minuten in den Film gestreut. Was dabei herauskommt, reicht von unglaublich, erschreckend bis haarsträubend und ganz selten auch witzig. An dem einsamen Fremden neben mir im Kino konnte ich spiegelbildlich wunderbar das Wechselbad seiner und meiner Gefühle beobachten: Mal herzhaftes Lachen, dann das Lachen, das im Hals steckenbleibt, manchmal verzweifeltes Aufstöhnen. Als ob die Welt nicht schon mit den bedruckten Seiten namens „Mein Kampf“ genug gestraft wäre, beginnt Hitler, inzwischen recht gut mit der Errungenschaft des Computers vertraut, wieder, geduldiges Papier zu beklecksen. Unter der Federführung der Medienfrau Bellini (Katja Riemann), die er in einem Atemzug mit Leni Riefenstahl nennt, wird die Chose dann auch noch verfilmt. Ohne die Hörfilmbeschreibung über Greta, meinen Rettungsanker, hätte ich spätestens bei dem Film im Film den Überblick verloren. Aber gemeinsam haben wir das problemlos hinbekommen. Die Sprecherin bewahrte auch bei noch so absurden Turbulenzen mit ihrer wohltuenden Stimme die Ruhe und war immer zur richtigen Zeit mit den wichtigen Informationen zur Stelle. Verlassen habe ich das an einem sonnigen Sonntagnachmittag bis auf den letzten Platz ausverkaufte Kino mit einem lachenden und einem nachdenklichen Auge. Auf daß er niemals mehr da sein möge!

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Ein hell gedeckter Tisch mit leuchtenden Kerzen, einer Rotweinflasche und einem gefüllten Glas. Die Blindgängerin sitzt vor einem großen quadratischen Teller, auf dessen geschwungenen Rändern in Schlangenlinien eine rote Soße verteilt ist. Auf dem Teller ein kleines Glas mit einer grünen Soße sowie eine große Stoffschnecke mit schwarzer Brille. In den Händen hält die Blindgängerin Schneckenzange und Schneckengabel.

Blaue Bohnen auf kurz vor 12!

„Wenn Sie sich vorstellen, der Teller ist eine Uhr, auf welchen Zahlen liegt dann das Essen?“ Mit genau dieser präzise und knapp formulierten Bitte wendet sich die von Geburt an blinde Lily vom Rehabilitationszentrum für Blinde an die Kellnerin eines Landgasthofs irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern. Die etwas verunsicherte Dame versucht, ihre Sache so gut wie möglich zu machen. Aber anstatt genauso präzise und knapp anzusagen, welches Stündlein den Kartoffeln, dem Fleisch und dem Gemüse schlägt, dreht sie nicht am Zeiger, sondern immer wieder am Teller. Als sich beispielsweise das Schnitzel gemütlich zur „Tagesschau“ hinfläzt, ziehen die Kartoffeln sicherheitshalber schon einmal kurz vor High Noon aus Angst vor den blauen Bohnen die Köpfe ein. Nur die Erbsen kichern eine Stunde zu früh vor dem Nachmittagstee. Um die Erbsen zu disziplinieren, dreht die Kellnerin wieder am Teller, Lily und ihr ebenfalls blinder Begleiter Jakob drehen durch. Nachdem der Teller einige Runden gedreht hat, meint der erst vor kurzem durch einen Verkehrsunfall erblindete Jakob ein bißchen sarkastisch, die Dame könne wohl die Uhr nicht lesen. Um der Prozedur ein Ende zu machen, einigt man sich schließlich auf „Erbsen auf halb 6“. Das ist dann auch der Titel des im Jahr 2004 erschienenen deutschen Spielfilms, dem ich diese Szene entnommen habe. Seit dem 16. Jahrhundert wird in Europa von Tellern gegessen, zunächst an den Höfen des Adels. Der Teller ist ein meist runder flacher Teil des Eßgeschirrs mit einer Vertiefung in der Mitte, jedenfalls war das während der letzten fünf Jahrhunderte so. Es wird zwar auch heute noch von Tellern gespiesen, aber rund ist seit einigen Jahren wohl mega-out! In mittlerweile fast allen Restaurants bekommt man sein Essen auf wahnsinnig gezackten quadratischen oder rechteckigen Ungetümen serviert. Abgesehen davon, daß ich diesen Designs nichts abgewinnen kann, erleichtert mir der stylische Teller nicht unbedingt das entspannte Genießen der weitläufig darauf drapierten kulinarischen Köstlichkeiten. Mir kann zwar immer noch die Anordnung der Speisen mit der entsprechenden Uhrzeit erklärt werden, aber wenn solch ein Monsterteller einmal vor mir steht, dann steht er. Ich bin den „Zeitansagen“ des Küchenchefs ausgeliefert und habe keine Chance, wie beim runden Teller mit einer kleinen Drehung die Zeit um ein paar Stunden vor- oder zurückzustellen. Die Zacken ragen häufig bedenklich weit über die Tischkante und sind oft mit kleinen Gläschen, Schüsselchen und Löffelchen bestückt. Gern wird der Teller dazu am Rand kunstvoll mit irgendwelchen Flüssigkeiten verziert, kommt also sozusagen schon verkleckert aus der Küche. Deshalb kam es auf dem Weg zu meinem jetzt viel weiter entfernten Weinglas entlang des Tellerrandes schon zu dem ein oder anderen Zwischenfall. „A rose is a rose is a rose is a rose” schrieb 1922 die US-amerikanische Schriftstellerin Gertrude Stein, die neben Virginia Woolf zu den ersten Frauen der klassischen literarischen Moderne zählte. Ich bediene mich dieses Zitates in abgewandelter Form und plädiere dafür: Ein Teller ist ein Teller ist ein Teller ist ein Teller, also ein Gebrauchsgegenstand, der mir das kultivierte genießerische Zuführen der Speisen zum Munde ermöglichen und erleichtern, aber auf keinen Fall verkomplizieren soll. Auch das Besteck sollte an der gewählten Position liegen bleiben und keinen eigenmächtigen spontanen Abgang machen, nur weil das höchst anspruchsvolle Design die Grundsätze der Gewichtsverteilung ignoriert. Aber unabhängig von seiner Form ist jeder Teller, den ich nicht selbst bestückt habe, immer wieder für eine Überraschung gut. Wenn das Auge eben nicht mitisst, landet ruck zuck ein nicht zum Verzehr vorgesehener Deko-Kräuterstrunk, die Deko-Zitrone oder Orangenscheibe im Mund. Beim Abziehen der Fleischstücke von einem Spieß, der zuvor vielleicht auch noch ein Bad in der Soße nahm, bin ich schon das ein oder andere Mal über das Ziel hinausgeschossen. Da bekommt der grundsätzlich positiv gemeinte Spruch „über den Tellerrand hinausschauen“ einen eher peinlichen Beigeschmack. In dem Film „Pappa ante Portas“ kann man die Filmgemahlin von Loriot, Evelyn Hamann, sehr schön bei ihrem verzweifelten Kampf mit solch einem Spieß beobachten. Obwohl sie genau sehen konnte, was sie tat, hat sie, glaube ich, den Kampf nicht ganz unbeschadet überstanden. Weinbergschnecken werden vor dem Verzehr irgendwie aus ihren Behausungen gelockt, wahrscheinlich gekocht und anschließend mit Knoblauchbutter wieder in Deko-Schneckenhäuser gestopft. Im Restaurant müssen die Tierchen mit Spezialwerkzeugen wieder herausoperiert werden. Das lehne ich kategorisch ab. Ich habe keine Lust, daß mir das schlüpfrige Scheißerchen wie Julia Roberts in „Pretty Woman“ sonstwohin flutscht. Aber abgesehen von Schneckenhäusern kann mir der noch so wild gestylte Teller mit den abenteuerlichsten Kreationen meine Freude am Essen und der guten Küche nicht nehmen. Neben der, wie ich finde, oft zu Unrecht unterschätzten deutschen liebe ich vor allem die französische und italienische Küche, gelegentlich auch einmal mit einem leicht asiatischen Einschlag. Aber jetzt ist sowieso erst einmal Schluß mit den allabendlichen Restaurantbesuchen. Der Urlaub ist rum und auf den runden Teller kommt das von mir Gekochte nach meinem Zeitgefühl. Der arme Lektor!

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Eine weiße Tür in einer weißen Wand. An der Tür hängt ein brauner Bilderrahmen, die Bildfläche ist weiß. Davor steht die Blindgängerin, in der erhobenen Hand hält sie einen Ringpinsel mit weißer Farbe daran.

Ich und Kaminski

Kunst ist ein menschliches Kulturprodukt, das Ergebnis eines kreativen Prozesses und beneidenswert frei! Kann man ein weißes Bild mit weißen Streifen als Kunst durchgehen lassen? Der Streit über diese Frage stellt die langjährige Freundschaft dreier Männer in dem 1994 in Paris uraufgeführten Theaterstück „Kunst“ von Yasmina Reza auf eine harte Probe. Der stolze Eigentümer muß sein weißes weiß gestreiftes Bild als Kunstwerk und den dafür gezahlten Preis in Höhe von 200.000 französischen Francs gegen die spitzen Verbalattacken seines Freundes verteidigen. Der dritte im Bunde versucht, zwischen den Streithähnen zu vermitteln. Diesen amüsanten mit viel Wortwitz geführten Disput verfolgte ich vor vielen Jahren im Heidelberger Zimmertheater. Das Zimmer faßt ungefähr 100 Besucher und die erste Reihe gehört schon fast mit zur Bühnenkulisse. Als der Gegner des Bildes im Eifer des Wortgefechtes dieses als „weiße Scheiße“ betitelte, passierte es! Eine Dame im Publikum steckte mit ihrem glucksenden und nicht enden wollenden Lachanfall zuerst nach und nach alle Theaterbesucher an, schließlich aber auch die drei Schauspieler, die so für einige Minuten außer Gefecht gesetzt wurden. Viele Menschen können es kaum erwarten, bis die ersten Schneeflocken spätestens zu Weihnachten alles in eine Winterlandschaft verwandeln. Besonders nervös beobachten „gepriesen sind die Skifahrer“ ab Mitte Dezember die sich in den Bergen ansammelnden Schneemassen. Seit diesem Theaterbesuch verfluche ich die weiße Schneepracht jedenfalls im Alltag als „weiße Scheiße“, durch die ich mich mit dem weißen Stock wühlen muß, ohne von den mir vertrauten und gewohnten Geräuschen geleitet zu werden. Um gleich mehrere Bilder geht es auch in dem vor kurzem angelaufenen Film „Ich und Kaminski“. Vor dem Kinostart eröffnete im Bikini Berlin die Ausstellung „Retrospektive Kaminski“, in der erstmals für einige Tage Bilder aus seiner „Blinden Serie“ zu sehen waren. Manuel Kaminski wurde Mitte der 60er Jahre als The Blind Painter berühmt, hatte in den großen Museen der Welt einige Ausstellungen und geriet nach seinem plötzlichen Rückzug in Vergessenheit, heißt es. Er wird in einem Atemzug mit Henri Matisse, Andy Warhol, Claes Oldenburg und Pablo Picasso genannt und sei einer der letzten Überlebenden der klassischen Moderne. Anfang des 20. Jahrhunderts kam eine Vielfalt neuer Kunststile auf, die alles bisher dagewesene revolutionierten, so in Frankreich der Kubismus, in Rußland der Konstruktivismus und in Deutschland das Bauhaus. Die Künstler der klassischen Moderne entwickelten sich weg von der gegenständlichen Malerei hin zur Abstraktion, um die Wahrheit hinter den Dingen zu ergründen. Sehr oft lassen sie allerdings die Betrachter ihrer Werke über ihre so gewonnenen Erkenntnisse im Unklaren. Die Sache mit Kaminski hat allerdings einen Kunstfehler. Der blinde Maler ist eine Kunstfigur des Schriftstellers Daniel Kehlmann in seinem 2003 erschienenen und jetzt verfilmten Roman „Ich und Kaminski“. Die Künstler Matisse, Warhol und Picasso sind in aller Munde und sogar mir als Kunstunbeflissener ein Begriff. Daß ich von Kaminski noch nie etwas gehört hatte, war für mich aber kein Grund, an seiner Existenz zu zweifeln. Erst das erfolglose Googeln machte mich stutzig. Wer, wenn nicht Kaminski, steckt hinter den Bildern, die in der Ausstellung „Retrospektive Kaminski“ zu sehen sind? Das Art-Magazin spekulierte in einem Artikel, die „Blinde Serie“ im Gruselstil könnte von der Hand des US-amerikanischen Musikers und Künstlers Marilyn Manson stammen. Im Film jedenfalls sucht der Kunstjournalist Sebastian Zöllner (Daniel Brühl) den blinden Maler Kaminski (Jesper Christensen) in dessen Chalet in den Schweizer Alpen auf, um über den inzwischen alten Mann eine Biographie zu schreiben. Schon bei der Vorankündigung im August war mir sofort klar, daß ich mir das außergewöhnliche und hochinteressante Duo unbedingt in voller Filmlänge anschauen muß. Blinde tun, abgesehen vom eigenhändigen Führen von Fortbewegungsmitteln in der Luft, zu Wasser oder auf der Straße, fast alles, was auch die sehende Welt tut, und das ist gut so! Dazu gehören neben allen Sportarten beispielsweise das Fotografieren und natürlich auch das Malen. Ich hatte noch nie Freude daran, etwas außer Buchstaben aufs Papier zu bringen, und meine malerischen Fähigkeiten reichen wahrscheinlich nur zu einem weißen Bild mit weißen Streifen. Schon in der Schule war mir der Kunstunterricht ziemlich verhaßt. Noch wie heute kann ich mich an die aussichtslose Anstrengung erinnern, wie ich mit meiner Lupenbrille fünf cm über dem Millimeterpapier maßstabgetreu den Grundriß des Speyerer Doms übertragen sollte. Auch im Park zu sitzen und einen herbstlich belaubten Baum zu zeichnen, fand ich einfach nur lästig. Bei meinen kindlichen Malversuchen mit Wasserfarben hatte ich in kurzer Zeit den Tuschkasten geflutet und aus allen Farbtöpfchen eine undefinierbare Mischung angerührt. Was schließlich mit dem Pinsel den Weg auf das Papier gefunden hatte, wäre mit viel gutem Willen vielleicht als extrem klassische Moderne durchgegangen. Spaß gemacht hat mir das Malen mit Fingerfarben, das Werkeln mit Kartoffeldruck und Linoleumschnitt und das Formen von Knetmasse und Ton, eben Material, das ich direkt mit den Fingern bearbeiten konnte, ohne eine künstliche Verlängerung durch einen Stift oder Pinsel kontrollieren zu müssen. Genauso gespannt wie der fiktive Kunstjournalist bin auch ich zu erfahren, wie und ob der fiktive und vielleicht auch fiktiv blinde Maler Kaminski die in dem Film real auftauchenden und in der Ausstellung real ausgestellten Bilder gemalt hat. Jemand hat zu meiner großen Freude meinen ganz leise geäußerten Wunschgedanken erhört und die Bildbeschreibung für den Film über die App von Greta hörbar gemacht. Hoffentlich waren die Dialogpausen lang genug, um die angeblich im Gruselstil gemalten Bilder zu beschreiben. Sobald ich wieder in die Nähe eines deutschsprachigen Kinos komme, haben ich und „Ich und Kaminski“ einen Termin. Danach besteige ich mit Greta, Popcorn und einer Cola den Mount Everest. Aber jetzt gehe ich erst einmal an den Strand!

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45 Years

Das Edelmetall Silber ist ein chemisches Element, hat eine weißliche Farbe und wird vorzugsweise zu Schmuck verarbeitet. Messing ist das Produkt einer künstlich erzeugten Legierung aus den Metallen Kupfer und Zink. Seine Farbe variiert zwischen goldbraun und goldgelb, je nach der Konzentration des Kupfer- oder Zinkanteils. Aus Messing werden Türklinken und Kerzenständer gefertigt, Messingbeschläge zieren alte Holzboote. Bei der diesjährigen Berlinale gab es gleich zweimal Silber für eine Messinghochzeit. Mit den Silbernen Bären honorierte die Jury die herausragende schauspielerische Leistung der Hauptdarsteller Charlotte Rampling und Tom Courtenay in dem Film „45 Years“. Die beiden stecken als das Ehepaar Kate und Geoff Mercer in einem Vorbereitungscountdown für ein großes Fest, mit dem sie ihren 45. Hochzeitstag, die Messinghochzeit, feiern möchten. Seit langem werden Hochzeitsjubiläen feierlich begangen und jeder Feiertag hat einen eigenen Namen mit entsprechenden Bedeutungen und Bräuchen. Los geht es bereits mit dem ersten Jahrestag, der Papierhochzeit. Im 18. Jahrhundert gab es den Brauch, daß sich die Eheleute nach 35 Jahren zur Leinwandhochzeit auf einer Leinwand verewigen ließen. Hätte ich geheiratet, feierte ich dieses Jahr die Perlenhochzeit. Auch ohne das behördlich dokumentierte und kirchlich abgesegnete Ja-Wort reihen sich 30 Perlen auf der Perlenkette, einfach nur aus Liebe, erst recht ein Grund zum Feiern! Üblicherweise werden Hochzeitsjubiläen zwischen den Eheleuten oder im engsten Familienkreis begangen. Kate und Geoff wollen ihre Messinghochzeit genau so wie damals ihre Hochzeit feiern: Mit einem rauschenden Fest in einem festlich geschmückten großen Saal, mit all ihren Freunden. Wie beim Messing das Kupfer und das Zink, gehen die Ehepartner eine Verbindung ein. Nach 45 Jahren sind sie aufeinander eingespielt und eine Trennung scheint höchst unwahrscheinlich. Sinnbildlich ist die Ehe nun genauso hart und schwer verformbar wie Messing. Soweit jedenfalls die Theorie! Mitten in die Vorbereitungen des Jahrestages flattert ein an Geoff adressierter Brief aus der Schweiz ins Haus. Die Schweizer Behörden teilen ihm mit, daß man jetzt seine vor 50 Jahren tödlich verunglückte Jugendliebe aus einer Gletscherspalte bergen konnte. Bei einer gemeinsamen Wanderung, begleitet von einem ortskundigen Führer, war Katya damals vor Geoffs Augen in die Tiefe gestürzt. Dieser Brief vermag es, sowohl die Alltagsroutine als auch den Hochzeitstagsvorbereitungsmarathon empfindlich zu stören. Die Kameraführung läßt sich viel Zeit, die Blicke und Gesten der beiden einzufangen, mit denen sie ihre sich langsam ändernden Gefühle für einander zum Ausdruck bringen. So nahe sich Kate und Geoff zu sein schienen, so erschreckend ist es anzuschauen, wie sich Kate allmählich in die Eifersucht auf Geoffs Liebe weit vor ihrer Zeit hineinsteigert und alles heutige in Frage stellt. Geoff wird von der Nachricht 50 Jahre zurückkatapultiert. Er hängt den Erinnerungen an seine erste große Liebe nach und sein Interesse an den Vorbereitungen für den großen Tag bewegt sich gegen null. Als Kate ihn so lange löchert, bis er offen ausspricht, daß er Katya geheiratet hätte, die auch noch ein Kind von ihm erwartete, gibt ihr das den Rest. Der Volksmund sagt, die Augen seien das Tor zur Seele. Geöffnet wird das Tor über den Augenkontakt. Mit einem Blick in die Augen läßt sich die Gefühlsregung des Gegenübers ergründen und Nähe aufbauen. Um sich zu verstehen, reichen Blicke und es bedarf keiner Worte. Diese Möglichkeit der Kommunikation, von der Kate und Geoff reichlich Gebrauch machen, bleibt mir leider versagt. Ich brauche das gesprochene Wort oder zumindest ein zu hörendes Seufzen, Atmen, Ächzen, und versuche anhand der Stimmung der Stimme, die Gefühlsstimmung zu erraten. Schon die kleinste Veränderung der Mimik, z.B. der Mundwinkel oder der Augenbrauen, wirkt sich für mich hörbar auf die Stimme aus. Man wird wohl kaum im Brustton der Überzeugung etwas in die Welt posaunen und dabei überrascht eine Augenbraue nach oben ziehen. Sehr treffend hat es ein Texter namens Günther Damm 1968 auf den Punkt gebracht: „Wenn die Augen das Tor zur Seele sind, sind die Ohren der Geheimgang.“ Aber was nutzen mir meine Ohren, wenn eben nicht gesprochen, sondern nur geblickt und gestikuliert wird? Die Rettung ist wieder einmal die Hörfilmbeschreibung. Neben „Fack ju Göhte 2“ ist „45 Years“ der zweite am Donnerstag vor zehn Tagen gestartete Film, bei dem die Hörfilmbeschreibung mit der App von Greta über den Geheimgang in mein Ohr gelangte. Selten haben die Bildbeschreiber die Gelegenheit, die Menschen, ihr Verhalten und das Umfeld so detailliert zu beschreiben, wie bei diesem Film der wenigen Worte. Ich glaube, kein Blick, Achselzucken, zur Seite schauen, einfach jede noch so minimalistische Nuance und Veränderung der Körperhaltung und der Mimik wurde mir vorenthalten. Das Haus der beiden habe ich mir vor meinem geistigen Auge eingerichtet. Dank der Spaziergänge Kates mit dem Hund Max konnte ich mir auch von der ländlichen Gegend der britischen Grafschaft Norfolk eine Vorstellung machen. Max‘ Beschreibung wurde, glaube ich, vergessen. Der Text der Bildbeschreibung hat mir sehr gut gefallen. Mit der Stimme der Sprecherin, oder vielmehr ihrer Sprachmelodie, konnte ich nicht so recht warm werden. Trotz aller Irrungen und Wirrungen der Gefühle lassen sich zu guter Letzt die Eheleute dann doch von ihren Freunden zur Messinghochzeit gratulieren und feiern. Geoff kämpft bei seiner Ansprache an die Geladenen mit den Tränen. Er eröffnet mit Kate zu ihrem Song von damals den Tanz, der vielleicht der letzte der beiden sein könnte. Eine sehr nette Frau hatte mich schon an der Kinokasse unter ihre Fittiche genommen und wir verließen beide gleichermaßen beeindruckt von dem Film das Kino. Ich konnte sie allerdings nicht wirklich davon überzeugen, daß und wie sich mir der für die Augen gemachte Film nur über die Ohren erschließen konnte.

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